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290, Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten Juni 2013, www.daskonstruktiv.at, Euro 9,– | GZ 12Z039152 M | VPA 1070 Wien Von oben betrachtet sieht man da gar nichts. Außer, man ist Spezialist für Luftbildarchäologie. Eine Methode, die wahrlich tief blicken lässt, ins Unterirdische nämlich. Und in die Vergangenheit. Die Kreisgrabenanlage in Steinabrunn ist mehr als 4500 Jahre alt. Lange vor Stonehenge hub man in Niederösterreich an etwa 50 Orten konzentrische Gräben aus und errichtete Palisaden. Deren Sinn und Zweck war lange Zeit ein Rätsel. Zu dessen Lösung die Entdeckung ähnlicher Achsen gegenüber den Himmelsrichtungen einen ersten Hinweis gab. Mehr aber auch nicht, denn die Orientierung der Anlagen ergab keinerlei astronomischen Sinn. Erst die Zusammenarbeit von Archäologen mit Astronomen und Informatikern lüftete das Geheimnis. Galt es doch, die Lage der Sterne in der Steinzeit über Niederösterreich zurückzurechnen und in einem 3D-Modell zu rekonstruieren. In diesem konnte man erneut auf Sinnsuche gehen. Und zeigen, wo die Schattenlinien der Tore am Tag der Sonnenwende verliefen. So wurde klar, welch erstaunliche Kenntnis der Geometrie und Astronomie die Steinzeitmenschen besaßen. Die Kreisgräben waren Uhren und Kalender, bezogen auf Sonnenstände und Sternenhimmel. Und doch hätten für die Kalenderfunktion Pflöcke im Boden gereicht. Der gigantische bauliche Aufwand ist ohne die zusätzliche Annahme soziokultureller Funktionen nicht nachvollziehbar. Welche Götter und Geister auch das Zentrum des Steinzeituniversums bewohnt haben mögen: Sie werden trotz modernster Methoden für immer so unsichtbar bleiben, wie sie es damals schon gewesen sind. Wolfgang Pauser N 290, „Jede Wahrnehmung findet in unserem Kopf statt; Wahrnehmungen bestehen aus einem Zusammenspiel von Erwartungen, von Wissen und von der Fähigkeit, Dinge interpretieren zu können, und sind somit immer eine Konstruktion. Was die neuere Psychologie immer mehr und mehr realisiert, ist, […] dass das oft von Person zu Person schwankt, da es oft mit Erfahrungen und der Vergangenheit, die sich in unser Gehirn eingenistet hat, zu tun hat.“ Unsichtbare Wirkung

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Inhalt 3 4 5 6 Editorial, Pendls Standpunkt Puntigams Kolumne, Dusls Schwerpunkt Standpunkte: Rudolf Kolbe, Alfred Brunnsteiner, Christian Aulinger Plus / Minus: Offener Wettbewerb Klaus Duda, Wojciech Czaja 7 Unsichtbare Wirkung 8 – 10 Ich seh’ etwas, das du nicht siehst! | Warum Unsichtbarkeit kein rein optisches Phänomen ist Helmut Leder im Interview mit Sebastian Jobst 11 – 14 Klang als Bau-Material | Der Hör-Raum als Lebensraum in einer zunehmend virtualisierten Umwelt der digitalen Kultur Werner Jauk 15 – 19 Spürbare Wirkung | Zur Notwendigkeit einer veränderten Interaktion von Gebautem und Sozialem Cordelia Polinna 20 – 23 traktat über die vergeudung der wahrheit in der architektur | (fragment) Jan Tabor 24– 26 Der Planungsprozess | Die unsichtbare Steuerungskraft und ihr Wandlungspotenzial der Zukunft Arnold Tautschnig, Anja Hogge 27 – 30 Einführung in den Hertzianismus | Das Zeitalter der Antenne Stephan Trüby 34 – 36 Velo-city 2013 | Wien setzt (sich) aufs Fahrrad Eva Tinsobin 37 – 39 Ich habe doch nichts zu verbergen, oder? | Die heikle Beziehung von Sicherheit und Freiheit Mathias Rittgerott 40 – 41 Empfehlungen, Jüngste Entscheidung, Krassnitzers Lektüren 42 Porträt Jana Revedin Magdalena Klemun 43 Fehlanzeige, Das nächste Heft 44 Von oben Fehlanzeige Die Dominanz der Energiebilanz Der allgemeine Nachhaltigkeitsdiskurs manifest sich im Bauwesen gegenwärtig in einem eingeengten Blick auf die energetische Bilanz eines Gebäudes. Fassaden werden tiefer und teurer und Gebäudekubaturen immer kompakter. Raumhöhen werden allzu oft auf das erlaubte Minimum reduziert, da das Verhältnis Fläche zu Volumen – das A/V Verhältnis – als entscheidender Faktor bei der Ermittlung der Energiekennzahl herangezogen wird. Auch die Verwertungslogik zielt auf die maximale Schaffung von Quadratmetern innerhalb einer gegebenen Bauklasse ab. Die Raumqualität, die in der Relation zwischen Grundriss, Schnitt und Lichtführung entstehen kann, bleibt oft auf der Strecke. Raum sollte aber als Allgemeingut und nicht als Luxus verstanden werden, als ein Mehrwert, der als solcher bewertet und auch gefördert wird. Ein umfassenderes Verständnis von Nachhaltigkeit müsste zur Betrachtung der „Gesamt-Performance“ eines Gebäudes, eines Ensembles führen, in der die dreidimensionale Qualität einen entscheidenden Faktor spielt. Eine flexiblere Handhabung der Bebauungsbestimmungen, etwa durch die Einführung eines Bonussystems, in das der Schnitt und das Volumen als mitbestimmender Faktor aufgenommen werden, wäre im Sinne einer neuen Balance zwischen ökologischem Bewusstsein und architektonischer Qualität längst wünschenswert . André Krammer N Impressum konstruktiv 290 Medieninhaber und Herausgeber Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (bAIK) 1040 Wien, Karlsgasse 9 T: 01-505 58 07-0, F: 01-505 32 11 www.daskonstruktiv.at Erscheinungsweise Auflage Einzelpreis Abopreis pro Jahr vier Mal jährlich 13.500 Stück 9,00 Euro 24,00 Euro Lektorat Dorrit Korger Grafisches Basiskonzept Gassner Redolfi, Schlins Bohatsch und Partner, Wien Gestaltung vektorama. grafik.design.strategie Wien Druck Ueberreuter Print GmbH, Korneuburg Gedruckt auf SoporSet Premium Abbildungen Seite 3: Roeland Otten // Seite 4: Ingo Pertramer, F. = Fotograf Andrea Maria Dusl // Seite 5: Otto Hainzl, bAIK // A. = Architekt Seite 7: Tomás Saraceno // Seite 8: Helmut Leder // Seite 11: Werner Jauk/Heimo Ranzenbacher // Seite 12–13: raya y punto// Seite 15: Kunstquadrat // Seite 17–18: A. J & L Gibbons/muf architecture| art – F. Sarah Blee // Seite 22: A. Hans Hollein – F. Joe J. Heydecker/ÖNB // Seite 23: A. Heinrich Schmid & Hermann Aichinger – F. ÖNB // Seite 25–26: vektorama.grafik.design.strategie Wien // Seite 30: The US National Archives // Seite 36: Florian Spielauer // Seite 38: ScaarAT // Seite 42: Jana Revedin // Seite 43: Markus Guschelbauer – F. Michael Hassmann // Seite 44: (c) 2010 Microsoft Corporation and its data suppliers Die Redaktion ersucht diejenigen Urheber, Rechtsnachfolger und Werknutzungsberechtigten, die nicht kontaktiert werden konnten, im Falle des fehlenden Einverständnisses zur Vervielfältigung, Veröffentlichung und Verwertung von Werkabbildungen bzw. Fotografien im Rahmen dieser Publikation um Kontaktaufnahme. Das Gestaltungskonzept dieser Zeitschrift ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist unzulässig. Die Texte, Fotos, Plandarstellungen sind urheberrechtlich geschützt. Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz ist auf www.daskonstruktiv.at veröffentlicht. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben ausschließlich die Meinung des Autors wieder, die sich nicht mit der des Herausgebers oder der Redaktion decwken muss. Für unverlangte Beiträge liegt das Risiko beim Einsender. Sinngemäße textliche Überarbeitung behält sich die Redaktion vor. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Zugunsten der Lesbarkeit wird, wenn von den Autorinnen und Autoren nicht anders vorgesehen, auf geschlechtsspezifische Endungen verzichtet. Das Zitat auf dem Titel wurde dem Interview mit Helmut Leder entnommen. Redaktion, Anzeigen & Aboverwaltung art:phalanx Kunst- und Kommunikationsbüro Clemens Kopetzky (Geschäftsleitung) Redaktionsteam Susanne Haider, Sebastian Jobst, Heide Linzer 1070 Wien, Neubaugasse 25 /1 /11 T: 01-524 98 03-0, F: 01-524 98 03-4 redaktion@daskonstruktiv.at, anzeigen@ daskonstruktiv.at, abo@daskonstruktiv.at Redaktionsbeirat Walter Chramosta (Architekturpublizist), Gerald Fuxjäger (Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Steiermark und Kärnten), Georg Pendl (Präsident der bAIK), Rudolf Kolbe (Vizepräsident der bAIK und Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Oberösterreich und Salzburg), Sabine Oppolzer (Kulturjournalistin), Wolfgang Pauser (Konsumforscher & Berater), Walter Stelzhammer (Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien, Niederösterreich und Burgenland) Das nächste Heft Die Beherrschung des Wassers ist menschheitsgeschichtlich die Geburtsstunde der Ingenieurskunst. Über Kanäle mussten Siedlungen und Felder damit versorgt werden und Abwässer wiederum aus den ersten Städten abgeleitet werden. Diese Herausforderungen wurden bereits sehr früh durch verhältnismäßig anspruchsvolle technische Lösungen bewältigt, doch auch heute zeigen Hochwasser die Grenzen technischer Beherrschbarkeit auf. Die Ambivalenz dieses Elements im Spannungsfeld zwischen Energiegewinnung, Hochwasserschutz bis hin zu Konflikten um Wasserreserven wird im nächsten Heft behandelt. Markus Guschelbauer, A Piece of Water, Installationsansicht im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung, einer Kooperation der VERBUND-Austrian Hydro Power AG und der Klasse Fotografie an der Universität für angewandte Kunst Wien, Künstlerhaus Wien, 2009. 255 Jausensackerl gefüllt mit je 0,30 Liter Wasser ergeben eine Wasserlandschaft in Form einer minimalistischen Wandinstallation. www.markusguschelbauer.com

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Editorial Unsichtbarkeit ist kein rein optisches Phänomen, denn Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, und so filtern Menschen je nach Wissensstand, Interesse und Aufmerksamkeit unterschiedliche Aspekte aus der Informationsflut an Eindrücken, die permanent auf sie einwirken. Besonders augenscheinlich wird dieses Phänomen im Aufeinandertreffen von Technik und ihrer Gestaltung, während selbst alltäglichste Techniken für Außenstehende längst unnachvollziehbar geworden sind, machen möglichst intuitive Designs diese dennoch für jeden anwendbar. Diese Diskrepanz zwischen Kenntnis und Anwendung macht technische Leistungen und ihren Einfluss auf unsere Umwelt oft unsichtbar. Ähnlich verhält es sich mit Planungsprozessen. Während der Baufortschritt jedem gut ersichtlich ist, entziehen sich die Planungen der verschiedenen Projektbeteiligten und deren Koordination oftmals der Wahrnehmung von Laien. Dadurch wird die Relevanz ausführlicher Evaluation und Planung für den gesamten Projektverlauf von Bauherren oftmals unterschätzt. Die Folgen machen derzeit prominent diskutierte Großprojekte, anhand von Kostenexplosionen oder Zeitplanverzögerungen, eindrücklich erkennbar. Tatsächlich unsichtbar, jedoch ohne minderen Einfluss auf unsere Umwelt und uns selbst, umgeben seit der Entwicklung der Antenne Kommunikationsnetze den Alltag. Sie erweitern unseren Kommunikationsraum, durchdringen physische Grenzen und haben es dadurch auch notwendig gemacht, diese neu zu denken. Soziale Prozesse und Architektur stehen immer in enger Wechselbeziehung und bedingen einander. Immer mehr Bewohner wollen jedoch eine aktivere Rolle in der Gestaltung und Verwaltung ihrer Umwelt einnehmen. Doch besonders solche komplexen Aufgaben bedürfen professioneller Planung und einer erweiterten Auffassung der jeweiligen Disziplinen. Sebastian Jobst N Pendls Standpunkt Die entstehung der neuen direktive zur öffentlichen vergabe ist derzeit in ihrer endphase. Dazu zwei aspekte: Die diskussion über architekturwettbewerbe erlebt derzeit in österreich eine auseinandersetzung mit partizipativen und sogenannten kooperativen verfahren. Wobei die kooperativen verfahren mit dieser diskussion nichts zu tun haben, da es sich um planungsvorbereitende prozesse handelt, welche tatsächliche architekturwettbewerbe erst ermöglichen, indem rahmenbedingungen, ziele, entscheidungsgrundlagen definiert werden. Zahlreiche aspekte dieser methoden sind trefflich zu diskutieren und im zuge der öffnung von planungsprozessen werden auch ergänzungen im system des architekturwettbewerbs wichtig sein. Dabei darf nicht übersehen werden, dass der architekturwettbewerb eine in recht langer tradition erarbeitete methode der findung des besten projekts für eine konkrete bauaufgabe ist. Aus meiner sicht das beste qualitäts- und zugleich projektorientierte verfahren, welches bei berücksichtigung grundlegender regeln für alle beteiligten einerseits einen möglichst offenen zugang, andererseits faire, transparente, nicht diskriminierende und nachvollziehbare auswahlentscheidungen ermöglicht und vor allem dem auslober ein optimales und der gesellschaft ein baukulturell wertvolles projekt verspricht. In österreich gibt es eine vergleichsweise hohe anzahl an architekturwettbewerben, die mehrzahl gut abgehandelt, auch mit negativen ausnahmen, welche immer wieder für eine generelle kritik pate stehen dürfen. Diese ausnahmen dürfen jedoch kein grund sein, gleichsam das kind mit dem bad auszuschütten und das system des architekturwettbewerbs komplett neu zu erfinden. Das ist nur wasser auf die mühlen jener wirtschaftsliberal dominierten kreise, welche planung durch preiswettbewerb oder besser preiskampf vergeben wollen. Ein geschlossener einsatz für den architekturwettbewerb ist strategisch wichtig, da er nun einmal ein anerkanntes verfahren ist, dem immerhin in der alten wie in der neuen direktive ein eigenes kapitel gewidmet ist, und wir uns nicht sorgen müssen, dass allenfalls auftretende freie felder gerne von allen möglichen anderen verfahren besetzt werden würden. Die alte direktive ermöglichte die durchführung guter verfahren bei gutem baukulturellem willen, so wird es auch in der neuen sein. Trotzdem ist die durchführung qualitätsorientierter vergabeverfahren, bzw. die vergabe intellektueller dienstleistungen, rein nach dem billigstbieterprinzip nach wie vor möglich. Die ökonomen haben uns erklärt, der markt regelt alles (auch architekturqualität), in wirklichkeit, so haben wir gesehen, regelt er nicht einmal sich selbst, sonst hätten wir nicht das, was allgemein krise genannt wird, aber nichts anderes ist als systemimmanente konsequenz. Die vormals so oft belächelten meteorologen wissen zumindest, wie das wetter heute ist, und sogar zunehmend präziser, wie es morgen sein wird, die ökonomen kennen nicht einmal das ökonomische heute, wie sonst konnten die unzähligen blasen aller art unbemerkt entstehen? Ich denke, wir sollten klar zum ausdruck bringen, dass all diese scheinökonomischen deregulierungen der qualität unserer gebauten umwelt schaden und somit langfristig hohe kosten verursachen werden und unsere politische forderung ein primat qualitätsorientierter verfahren bei der vergabe von intellektuellen und insbesondere von planungsleistungen sein muss. Und damit gleich auch zu einem in zusammenhang stehenden thema, der frage der honorarinformation. In deutschland wurde am 7. juni die neue hoai beschlossen, welche gegenüber der alten wesentliche verbesserungen bringt. Nahezu zeitgleich wurde auf eu-ebene eine peer review abgeschlossen, welche keine wesentliche attacke auf die hoai beinhaltet, wie an sich befürchtet worden ist. Insofern denke ich, dass eine neuorientierung auf diesem gebiet ein gebot des tages ist. Grundlagen wie die hoai sind nicht nur im sinne der architekten, sondern auch der auftraggeber, welche auch nicht nach dem billigstbieterprinzip vorgehen wollen, da sie gut wissen, dass darunter der im vorhinein nicht ausreichend definierbare faktor qualität der arbeit leidet. Dieses gemeinsame interesse zusammenzufassen ist einer der schritte auf dem weg zu qualitativen honorarinformationen. Georg Pendl (Präsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten) N Roeland Otten, Dazzle Painted Electricity Substation, Installation im öffentlichen Raum, Acrylfarbe und Anti-Graffiti-Beschichtung, 2 x 1,5 x 2,5 m, 2012

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Schwarzarbeit Martin Puntigam Kabarettist, Autor und MC der Science Busters Hausbauen auf der Erde ist zwar anstrengend, aber wenn man Baumaterial benötigt, weiß man, wo man hinfahren muss, um es zu bekommen. Wer im Universum einen Galaxienhaufen bauen möchte, hat es schwerer. Galaxienhaufen bestehen zu 15 Prozent aus heißem Gas, zu 5 Prozent aus Sternen und Planeten, und den restlichen 80 Prozent. Der Vorteil beim Besorgen des Baumaterials für einen Galaxienhaufen wäre, man muss nur dreimal fahren, der Nachteil, niemand weiß, woraus diese restlichen 80 Prozent bestehen. Innerhalb von Galaxienhaufen bewegen sich Galaxien aka Ansammlungen von Abermilliarden von Sternen und Planeten. Warum machen sie das? Weil sie es können. Aber warum können sie es? Weiß kein Mensch. Wenn die Naturgesetze, so wie wir Menschen sie beschreiben, stimmen, und vieles spricht sogar dafür, dass sie im gesamten Universum stimmen, zumindest dem Teil, den wir sehen können, dann müssten aufgrund der von der Bewegung herrührenden Fliehkraft die Galaxien eigentlich den Galaxienhaufen schnurstracks verlassen. Salopp formuliert. Tun sie aber nicht, sie sind anhänglich. Und das kann man be- obachten. Um zu erklären, warum Galaxien nicht das Weite suchen, wurde in der Wissenschaft die Dunkle Materie eingeführt. Das hat den Vorteil, dass man jetzt weiß, warum die Galaxien bleiben, aber den unangenehmen Nachteil, dass Dunkle Materie unsichtbar ist. Und unauffindbar. Vor rund 80 Jahren wurde sie so verhaltensauffällig, dass wir Menschen Notiz von ihr nahmen, aber bis heute wissen wir noch nicht einmal im Ansatz, woraus sie besteht. Dabei ist sie keineswegs selten. Fünfmal mehr Dunkle Materie als sichtbare Materie soll das Universum im Lager haben, aber niemand weiß, wo genau. Alle Lautsprecherdurchsagen, die Dunkle Materie möge sich bitte beim Ausgang melden, die besorgte Menschheit warte dort auf sie, blieben bislang erfolglos. Mit anderen Worten: Man hat im Universum etwas beobachtet, das man sich nicht erklären kann, und um es doch zu schaffen, wurde die Dunkle Materie erfunden, von der aber niemand weiß, woraus sie besteht und wie man sie finden könnte. Falls Sie also gerade ein Haus bauen und schwitzen, fluchen und stöhnen, seien Sie froh, dass Sie keinen Galaxienhaufen bauen müssen. N Dusls Schwerpunkt 290 4|5 Puntigams Kolumne | Dusls Schwerpunkt

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Wirksame Unsichtbarkeit Rudolf Kolbe Vizepräsident der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten Je nach Sachlage und Komplexität von Vorgängen sind Ursache und Wirkung in einem Fall auf den ersten Blick ersichtlich, während in anderen Situationen oft der Zusammenhang nicht offenkundig wird. Manchmal würde sich vielleicht die Wirkung gar nicht erzielen lassen, wenn sofort klar wäre, dass sich ein Ergebnis als Folge einer Aktion einstellen würde. Erfolgreiche Interessenvertretung integriert daher in die offensichtlichen Anliegen auch jene Ziele, für die alleine wohl keine ausreichende Unterstützung zu erlangen wäre. Ich möchte Ihnen dafür zwei aktuelle Beispiele geben. Als vor einigen Jahren die bAIK die gesetzliche Möglichkeit erhielt, ein elektronisches Urkundenarchiv einzurichten, war das Hauptargument, die Stellung des Ziviltechnikers als Urkundsperson auch im Zeitalter des e-Governments zu stärken. Dies konnte erreicht werden. Elektronisch erstellte Dokumente können nicht mehr „nachbearbeitet“ werden und Planänderungen bedeuten aufwendigen Dokumententausch. Daher wurde nebenbei vielfach die Qualitätskontrolle in den Büros der Kollegen verstärkt, um auch die letzten Flüchtigkeitsfehler aufzuspüren. Diese Entwicklung wurde uns bereits mehrfach von den Behörden, die Adressaten unserer Urkunden sind, bestätigt. Auch im Zusammenhang mit der überaus erfolgreich verhandelten Überleitung der WE in das FSVG gibt es auch erste unsichtbare Wirkungen. Die Gleichstellung unseres Berufsstandes hinsichtlich der Beitragshöhen für die Pensionsversicherung und die langfristige Absicherung waren die meistgenannten Ziele in den Verhandlungen. Natürlich hatten wir Verhandler aber auch die Attraktivierung einer Ziviltechnikerkarriere für junge potenzielle Berufsanwärter vor Augen. Und genau das beginnt jetzt zu greifen. Aus den einzelnen Kammern kommen Meldungen, dass in den ersten Monaten dieses Jahres überdurchschnittlich viele Befugnisansuchen einlangen, oft mit dem Kommentar, dass dies nun aufgrund der neuen Pensionsregelungen geschehe. Zwei Beispiele von vielen für die Wirksamkeit des, von den Kollegen meistens als unsichtbar empfundenen, Einsatzes ihrer Standesvertreter und sicher nicht die einzigen. N Aufwendige Planung ist oft unsichtbar, kostet Zeit und Geld, aber rentiert sich! Es ist eine Binsenweisheit, aber sie wird leider zu oft vernachlässigt. Die Qualität eines Bauwerks hängt von drei Hauptfaktoren ab, vom Gedankenblitz, dem Ingenium als Grundlage des Projekts, von der Ausführlichkeit der Planung und von der Stringenz der Umsetzung der Planung beim Bau. Aus der Sicht der TragwerksplanerInnen braucht es vier Phasen der Ingenieurleistungen, nämlich jene des Vorentwurfs, dann des Entwurfs, der Umsetzung der Planung und schließlich der Baukontrolle. Das Ingenium steckt im Vorentwurf und Entwurf. Wer glaubt, auf diesem Weg Abkürzungen, Einsparungen bei Teilleistungen machen zu können, wird von der Realität eingeholt. Die Einsparungen bei der Planung gehen meist auf Kosten der Qualität des Projekts. Es werden zum Beispiel keine Varianten untersucht, das Projekt wird nicht so gut, nicht so ausgereift, weder technisch noch kostenmäßig. Umfassende Planung ist zeitaufwendig und kostet deshalb etwas mehr. Es ist ein Faktum, dass nach außen hin auch nicht sofort sichtbare Planungsleistungen sich in der Gesamtsumme der Projektkosten rechnen. BauherrInnen, die öfter bauen, wissen die nicht sofort sichtbaren Planungsleistungen sehr wohl zu nützen. Alfred Brunnsteiner Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Tirol und Vorarlberg Was aber noch wichtiger ist – die Qualität des Projekts wird verbessert, und das ist die Anforderung unserer AuftraggeberInnen an uns ZiviltechnikerInnen und daran werden wir am Markt gemessen! N Geschwindigkeitsbegrenzung Christian Aulinger Vorsitzender der Bundessektion der Architekten Jetzt wird allerorten über leistbares Wohnen diskutiert. Das ist gut. Und das Normenwesen wurde als einer der Kostentreiber erkannt und wird jetzt von verschiedenen Seiten ins Visier genommen. Auch dagegen ist nichts einzuwenden, Handlungsbedarf bestünde auf diesem Feld jedenfalls ausreichend. Der aktuell ausgetragene mediale und politische Wettlauf, die unsinnigste Norm benennen zu können, ist jedoch nicht zielführend. Denn ähnlich wie in den öffentlichen Debatten um die Gurkenkrümmungsverordnung wird dadurch außer Empörung und Gelächter am Ende wenig in Erinnerung bleiben, und am eigentlichen Problem wird sich nichts geändert haben. Es ginge eigentlich darum, das Unvernünftige aus oft grundsätzlich sinnvollen Normen zu eliminieren. Also unzählige Normen zu redimensionieren. Zum heutigen Problem führten strukturelle Fehlentwicklungen im Normierungsprozess selbst. Die inhaltsbezogenen Prozesse der Normierung, die vor allem von sogenannten Arbeitsgruppen und Komitees getragen werden, sind arbeits- und zeitintensiv. Im Sinne eines unverzichtbaren Interessenausgleichs benötigt man dabei die unabhängigen PlanerInnen, die ihre Fachkompetenz und Praxiserfahrung einbringen und ehrenamt- lich, also unbezahlt, an Normen mitwirken. Ebendiese Gruppe wird aber durch das immer höhere Tempo der Normierungen systematisch aus dem Normierungsprozess verdrängt. Denn während die ÖNORM im Jahr 2000 noch 10.000 Normen zählte, sind es mittlerweile über 24.000. Auch Neufassungen werden in immer kürzeren Abständen aufgelegt, manche sogar jährlich. Bedenkt man, dass Arbeitsgruppen bis zu 20 volle Arbeitstage in die Neufassung einer Norm zu investieren haben, wird schnell ersichtlich, warum dies für ehrenamtlich agierende ExpertInnen nur schwer zu bewältigen ist. Wie man den durchgegangenen Gaul Normenwesen wieder einfängt, das ist heute die entscheidende Frage. Das österreichische Normengesetz, ganze drei Seiten lang und in seinen wesentlichen Zügen aus dem Jahr 1954, regelt den Normierungsprozess gar nicht. Hier gilt es also anzusetzen, wenn man das Problem in den Griff bekommen möchte. N Standpunkte

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Offener Wettbewerb Der offene Architekturwettbewerb – nachhaltig, kostensenkend und fair Anforderungen an Gebäude werden immer höher, wirtschaftliche Mittel knapper und der Ruf nach mehr Fairness immer lauter. Genug Gründe für mehr offene Wettbewerbe. Als Vorsitzender des Wettbewerbsausschusses der Länderkammer für W/N/B in den Jahren 2010 bis 2012 konnte ich einen guten Einblick in das Wettbewerbswesen gewinnen. Auffallend war die sinkende Anzahl von offenen Wettbewerben gegenüber beschränkten Verfahren mit teilweise sehr hohen Eignungskriterien. Unverständlich und bei Verfahren der öffentlichen Hand beinahe fahrlässig, wenn man die Chancen durch offene Wettbewerbe im Bereich Ökologie, Ökonomie und Nachhaltigkeit für unsere Gesellschaft betrachtet. Das beste Projekt als oberstes Ziel Ziel eines Architekturwettbewerbs ist, wie der Name schon sagt, das architektonisch beste Projekt zu finden. Daraus folgt, dass die beste Idee bzw. Umsetzung der Aufgabenstellung im Vordergrund stehen muss und nicht die Suche nach dem Planer mit den meisten Referenzen oder den besten Beziehungen. Und das nicht ohne Grund, denn es ist durch mehrere Studien nachgewiesen, dass Siegerprojekte von Wettbewerben erheblich bessere Kennwerte zum Durchschnitt der Wettbewerbsteilnehmer aufweisen. Bei beschränkten Verfahren wird auf kreatives Potenzial verzichtet und es werden nicht alle Möglichkeiten zur Kostenreduktion für Errichtung oder Betrieb eines Gebäudes ausgeschöpft. Das ist aus meiner Sicht beinahe fahrlässig, zumal es sich meist um Steuermittel handelt. Fairness unter Partnern Fairness und Transparenz müssten in Zeiten wie diesen eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Auch wenn der Bewerberkreis lt. geltendem Recht nicht unangemessen eingeschränkt werden darf, kommt es immer wieder vor, dass Verfahren hohe Einstiegshürden für Jungbüros aufweisen, wie z. B. für Mitarbeiteranzahl, Referenzprojekte oder Einschränkungen auf bestimmte Funktionen. Dabei wird vergessen, dass eine Teilnehmereinschränkung auf Großbüros keine Kostensicherheit bringt. Diese leidvolle Erfahrung mussten in letzter Zeit verschiedene Auftraggeber von Flughafen- oder Freizeitprojekten machen. Und zu guter Letzt sei erwähnt, dass sich die Teilnehmerzahlen für offene Wettbewerbe von selbst auf ein sinnvolles Maß regulieren würden, wenn es mehr offene Wettbewerbe gäbe. Klaus Duda N Weg mit dem Mittel fürs Mittelmaß! Nur die Besten kommen durch. Das klingt nach Wettkampf. Das spornt an. Doch die Realität in der österreichischen Wettbewerbslandschaft sieht anders aus. Es genügt ein Blick auf die öffentlichen Bauten der letzten Jahre und Jahrzehnte, die auf Basis öffentlicher Ausschreibungen ins ebenso öffentliche Leben geklotzt wurden: Bahnhof Wien-Mitte, Wiener Westbahnhof, Flughafen Wien-Schwechat. Da kommt einem das Grausen. Der Grund: Wettbewerbe sind längst nicht mehr nur Messgrade für planerisch-kreative Qualität, sondern vor allem auch für Wirtschaftlichkeit, Vermarktungsfähigkeit und Kompatibilität mit rechtlichen, behördlichen und raumplanerischen Formalprozessen. Und damit entwickeln sich offene Wettbewerbe mehr und mehr zu Werkzeugen, mit denen Missbrauch an architektonischer Kreativität, persönlichem Engagement und richtungsweisenden Visionen geübt wird. Oder, wie Architekt Adolf Krischanitz meint: „Architekturwettbewerbe sind zu schwindelerregenden Verfahren geworden, die hart an die Substanz der Architekten gehen. Ihre ursprüngliche Unschuld haben sie längst schon verloren.“ Hinzu kommt die Tatsache, dass die meisten offenen Ausschreibungen volkswirtschaftliches Vermögen vernichten. Jahr für Jahr werden in Österreich auf diese Weise rund 70 Millionen Euro an Arbeitszeit und Arbeitskraft verschossen. Manche treibt das in den Ruin. Mittlerweile sprechen sich viele Architekten für Aufwandsentschädigungen aus Steuergeldern aus. Gute Idee. Hat aber den Haken, dass sich der finanzielle Aufwand für die öffentliche Hand dadurch nicht mehr kontrollieren ließe. Alternativvorschlag: Einberufung von unabhängigen Gremien, die für bestimmte, öffentlich relevante Bauaufgaben Direktaufträge erteilen und geladene, überschaubare Auswahlverfahren ausschreiben, ohne damit gleich Hunderte Büros mitzukarren. Ein solches Bekenntnis zur Direktive wäre endlich eine Möglichkeit, Visionen umzusetzen. Denn die gehen im klassischen Wettbewerb unter. Ziel wäre es jedenfalls, eine Balance aus unterschiedlichen Prozessmodellen und Werkzeugen zu finden, mit denen man für die jeweilige Bauaufgabe das jeweils beste Resultat sicherstellt. Öffentlicher Wettbewerb ist nur eines davon. Diversität lautet das Zauberwort. Wojciech Czaja N 290 6|7 Plus/Minus

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Unsichtbare Wirkung in österreich hält sich hartnäckig die österreichische auffassung der moderne. die einer „moderaten moderne“, wie es der architekturkritiker walter zschokke vortrefflich ausgedrückt hat. einer moderne in der tradition von gottfried semper, otto wagner, adolf loos oder hans hollein. es ist die tradition der bekleidung, der verdeckung, der verschleierung des konstruktiven. die tradition hübscher missverständnisse. Jan TaborN Tomás Saraceno On Space Time Foam, 2012 Installationsansicht, Hangar Bicocca, Milano

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Ich seh’ etwas, das du nicht siehst! | Warum Unsichtbarkeit kein rein optisches Phänomen ist Helmut Leder im Gespräch mit Sebastian Jobst Seit 2004 leitet Professor Helmut Leder das Institut für Psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden an der Universität Wien. Im Forschungsschwerpunkt Psychologische Ästhetik erforscht er mit Kollegen, wie Schönes wahrgenommen wird, was überhaupt als solches bezeichnet wird und wie sich ebendiese Erkenntnisse in Kunst, Design und Architektur widerspiegeln. Mit KONstruktiv sprach er über die Gemeinsamkeiten von Technik und Kunst und warum komplexe Technologien oftmals hinter möglichst einfachen Oberflächen verborgen werden. Jobst: Die Unsichtbarkeit ist, so die praktische Erfahrung, kein rein optisches Phänomen. Oft nehmen wir Dinge oder Prozesse nicht wahr, obwohl sie eigentlich sichtbar wären. Phrasen wie „man könne den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ drücken diese Vermu­ tung aus. Wie lässt sich das aus der Perspekti­ ve der Kognitionspsychologie beschreiben? Leder: Alle unsere Sinne sind im Grunde nur ver­ mittelnde Zugänge zur Welt. Wir sehen nicht die Welt, sondern wir sehen Licht, das von Dingen re­ flektiert wird, auf unsere Netzhaut trifft und dort eventuell zum Wahrnehmungseindruck führt. Genauso hören wir Schallwellen, die von irgendet­ was herrühren, und das Faszinierende ist, dass wir uns als Individuum eigentlich in einer völlig leeren Welt bewegen würden, wenn wir nicht indirekt durch die Fähigkeit, solche Informationen zu unse­ ren Gunsten auszubeuten, eine Repräsentation von einer Art Außenwelt erhielten; allerdings, diese Re­ präsentation muss sehr gut sein, ansonsten wären wir evolutionär nicht so erfolgreich gewesen. J: Das heißt aber gleichzeitig, dass Wahrneh­ mung immer eine Interpretation ist. L: Ja, das ist die eigentliche Wahrnehmung und ist das Psychologische daran. Jede Wahrnehmung fin­ det in unserem Kopf statt; Wahrnehmungen beste­ hen aus einem Zusammenspiel von Erwartungen, von Wissen und von der Fähigkeit, Dinge interpre­ tieren zu können, und sind somit immer eine Konst­ ruktion. Was die neuere Psychologie immer mehr und mehr realisiert, ist, dass nicht nur jede Spezies mit ihren Ausprägungen der Sinnesorgane die Welt anders wahrnimmt, sondern dass das oft von Per­ son zu Person schwankt, da es oft mit Erfahrungen und der Vergangenheit, die sich in unser Gehirn eingenistet hat, zu tun hat. J: Um in der Forschung Vergleichbarkeit zu erzielen, muss es aber annahmsweise eine Art Nullpunkt, der von jedem geteilt wird, geben. L: Muss es nicht notwendigerweise, aber wir erfah­ ren natürlich ständig in unserer Alltagserfahrung, dass Menschen die Umwelt sehr ähnlich wahrneh­ men. Ansonsten könnten wir uns nicht über Begrif­ fe, Kategorien bis hin zu genauen Differenzierungen, z. B. von Farben, sprachlich austauschen können. Dass dies so oft funktioniert, ist ein Hinweis da rauf, dass wir die Welt ähnlich genug wahrnehmen. Nichtsdestotrotz kann es aber auch deutliche Unter­ schiede geben. Ich benutze in Vorlesungen zur Er­ klärung gerne eine räumliche Tiefenschärfetäu­ schung, auf einem schwarzen Monitor sind dabei ein roter und ein blauer Buchstabe zu sehen und etwa die Hälfte der Menschen sieht den blauen etwas weiter im Vordergrund und den roten im Hintergrund. Bei der anderen Hälfte der Menschen verhält sich das genau umgekehrt. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass sogar etwas Funda mentales wie die Wahrnehmung von Tiefe durch Farbkontrast bei Menschen unter­ schiedlich ausgeprägt ist. J: Überspitzt formuliert ist dadurch für man­ che Menschen etwas nicht wahrnehmbar, das andere aber klar sehen. L: Ganz genau. Das gilt in meinem eigentlichen For­ schungsgebiet der Wahrnehmung von Bildern und Kunst in noch viel stärkerem Maße. Wenn jemand etwas nicht weiß, dann kann er bestimmte Dinge in der Kunst nicht sehen. Ein einfaches Beispiel dafür wäre der Kubismus. Viele kubistische Bilder spielen mit der simultanen Darstellung von Dingen aus ver­ schiedenen Perspektiven. Kenne ich das Prinzip, kann ich daraus einen ästhetischen Genuss ziehen. Kenne ich es aber nicht, bleibt das Bild in gewisser Weise unwahrnehmbar und unverständlich, weil es sich nicht zu einer einzelnen Repräsentation fügt und dadurch natürlich auch nicht zum ästhetischen Genuss führt. Wissen prägt also ganz deutlich, was man wahrnimmt und was nicht. J: Aus einer anderen Perspektive betrachtet würde das natürlich bedeuten, Ästhetik wäre ein sehr elitäres System, denn je mehr man weiß, umso mehr Genuss kann man aus einem Kunstwerk, gutem Design oder Architektur gewinnen. L: Die Ästhetik der Kunst, des Designs und wahr­ scheinlich auch der Architektur hat natürlich auch diese Seite. Denn bestimmte Aspekte sind kultur­ geprägt und wissensabhängig und folglich nicht für jeden gleichermaßen zugänglich. Das macht schließlich auch die Debatten um bestimmte äs­ thetische Lösungen aus. J: Wenn Ästhetik auf dem Vorwissen des Be­ trachters basiert, hieße das doch gleichzeitig, dass eine breite Öffentlichkeit beispielsweise progressiver Architektur immer skeptisch ge­ genüberstehen müsste? L: Ich glaube, dass in diesem Spannungsfeld die Äs­ thetik der Architektur ihre Entscheidungen trifft. Wir wissen, dass Vertrautes eine hohe Eingängig­ 290 8|9 Ich seh’ etwas, das du nicht siehst!

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keit hat und oft gut gefällt. Innovation ist der Gegenspieler des Vertrauten. Innovation braucht in der Tat mehr Zeit, um sich durchzusetzen. Natürlich setzen sich, ähnlich wie in einem Wettbewerb, nicht alle Innovationen durch und nur einige werden im Laufe der Zeit in den Kanon aufgenommen. J: Dennoch ist es spannend zu beobachten, dass auch bei gleichem Wissensstand Men­ schen zu komplett unterschiedlichen Ge­ schmacksurteilen gelangen. L: Dem würde ich nicht unbedingt zustimmen. Was Kunsthistoriker an Akademien lernen, ist ein Fundus an Wissen über Bilder und Künste, dasselbe gilt für Architekten, die ebenfalls ein Wissen über ihr Fach teilen. Die Frage ist eine empirische; gefällt Architekten überwiegend dasselbe oder würde es erstaunlicherweise nicht der Fall sein? Ich glaube, dass Wissen eher individuellen Geschmack über­ deckt. Denn ich nehme an, dass Fachkundige einer Disziplin in Fragen zur Qualität meist übereinstim­ men. Ob sie das auch noch persönlich anspricht, mag mit individuellen Unterschieden zusammen­ hängen. Menschen ohne dieses fachspezifische Wissen unterscheiden sich vermutlich stärker in ihren Urteilen, weil sie keine Qualitätskriterien im Hintergrund haben, sondern ganz auf ihre sensorischen Erfahrungen beschränkt bleiben. Wissen führt sicherlich eher dazu, dass Qualität wahrgenommen wird. Dies wäre eine interessante empirische Frage. J: Neben dem Sinn des Sehens nehmen wir un­ sere Umwelt selbstverständlich auch durch Schall, Geschmack, Berührung und vieles mehr wahr. Bisher sprachen wir überwiegend von visuellen Eindrücken, wie lässt sich die Herangehensweise der Forschung an diese Sinnesvielfalt am besten beschreiben? L: Historisch betrachtet hat sich die Psychologie der Ästhetik überwiegend mit dem Visuellen beschäf­ tigt. Die Domäne des Visuellen ist vielleicht unser mächtigster Sinn und insgesamt hat sich die Wahr­ nehmungspsychologie daher sehr stark darauf kon­ zentriert. Das ist auch in unserem Forschungsbe­ reich hier an der Universität Wien der Fall, wir ma­ chen überwiegend visuelle Wahrnehmung, haben nun aber auch eine Musikpsychologin im Team, die mit uns die Interaktion von Musik und Bild ansieht. Traditionell ist aber die Wahrnehmungspsycholo­ gie sehr visuell geprägt, da im Moment aber wohl mehr Forscher als je zuvor, wie wahrscheinlich in allen anderen Fächern, tätig sind, gibt es mittler­ weile auch deutlich mehr Forschung zur auditiven Wahrnehmung und zu anderen Sinnesorganen, aber immer noch weniger. Experimente zur gusta­ torischen oder olfaktorischen Wahrnehmung sind im Labor einfach sehr aufwendig durchzuführen. Aber auch das Zusammenspiel der verschiedenen Sinne ist bisher wenig erforscht. J: Am ehesten wird dieses Zusammenspiel unter dem unscharfen Begriff des Atmosphä­ rischen subsumiert. Dabei sind aber doch Ein­ flüsse wie der Geruch sowohl als positive als auch negative Wahrnehmung wesentliche Faktoren im Erlebnis eines Raums. L: Dieses Thema ist in der Forschung leider noch stark unterrepräsentiert. Ein relativ bekanntes Bei­ spiel für die Erforschung des Zusammenspiels ver­ schiedener Sinne lieferten Zampini und Spence von der Oxford University. Sie untersuchten den Einfluss des Knuspergeräuschs von Chips auf die Einschät­ zung der Kartoffelchipsqualität. Der olfaktorische Sinn ist sehr alt und weist eine engere Verbindung zu bestimmten Emotionszentren im Gehirn auf als beispielsweise der visuelle Sinn. Er ist auch stärker mit dem emotionalen Gedächtnis verbunden. Schlechte Erfahrungen mit einem Lebensmittel prägen sich daher über den Geruch auch sehr tief und anhaltend ein. Was für die Architektur interes­ sant wäre, die Raumakustik, von der jeder Architekt zumindest ahnt, sie für die Atmosphäre zu benöti­ gen, ist bisher meines Wissens nach noch kein Thema in der Psychologie. J: Als Vorreiterin der angewandten Gestaltung stößt die Kunst in neue Medien und somit Sin­ neserfahrungen vor. Teile der zeitgenössischen Kunst beschäftigen sich bereits intensiv mit der Akustik. Wie lässt sich aus Sicht des For­ schenden dieser Wunsch nach Neuem erklären? L: Die Künste sind da nicht anders als die Wissen­ schaften. Sie stoßen in immer neue Gebiete vor, entwickeln Nischen und haben einen starken Inno­ vationsdruck. Das teilen die Künste, die Wissen­ schaft und die Architektur sicherlich miteinander. Alle drei können nicht einfach weitermachen wie ge­ wohnt, denn Wissenschaft per Definition will neue Erkenntnisse produzieren. Ähnlich versuchen auch die Künste und die Architektur neue Lösungen zu finden. Das macht sie überhaupt erst so spannend. J: Der Innovationsdruck gilt gleichermaßen für die Technik. Im Forschungsschwerpunkt Psychologische Ästhetik widmen Sie sich auch dem Design, das oftmals hoch komplexe Tech­ nologie unter möglichst einfachen Oberflä­ chen verbirgt. Was lässt sich zu diesem Ver­ hältnis aus dem Verbergen und der Inszenie­ rung der Technik sagen? L: Aus meiner eigenen Forschung kann ich Ihnen dazu nichts sagen. Ich würde aber spekulieren, dass es natürlich oft Sinn macht, die zugrunde liegenden technischen Lösungen dem Nutzer der Technologi­ en zu verschleiern. Man stelle sich nur vor, immer den Code von Software mitlaufen zu sehen, weil es dem Techniker so wichtig ist, dass Sie das verste­ hen. Sie würden wahnsinnig werden. Durch Design werden unglaublich komplexe Dinge zugänglich gemacht, indem sie in eine Oberfläche eingebettet werden, die sich auf das beschränkt, was für die In­ Ich seh’ etwas, das du nicht siehst!

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teraktion benötigt wird. Die Computernutzungsfor­ schung zeigt, dass vieles ausgespart werden muss, was von der eigentlichen Funktion ablenkt und damit hilft, Fehler bei der Nutzung zu vermeiden. J: Andererseits sehen wir an Gebäuden wie dem Centre Pompidou eine konträre Insze­ nierung von Technik, wenn wie in diesem Fall die gesamte Haustechnik nach außen gestülpt wird. L: Auch in diesem Fall würde ich aber vermuten, dass es sich um eine Spielart oder Nische handelt, ästhetische Grenzen auszuloten. Würden jedoch alle Gebäude ihr Inneres nach außen legen, wäre dies eine Komplexitätsexplosion in unseren Stadt­ ansichten, die vermutlich sehr schnell nicht mehr als schön angesehen werden würde. J: Ist der Reiz am Ästhetischen in gewisser Weise also die Abweichung von der Norm? L: Die Abweichung von der Norm ist einer der Me­ chanismen, mit denen man ästhetische Lösungen und Innovation hervorrufen kann. J: Ästhetik darf demzufolge genauso wie tech­ nische Entwicklung nie stillstehen. L: Oft gefällt uns Vertrautes; aber oftmals ist ästhe­ tisch – besonders in der heutigen Zeit – das, was her­ ausfordert, ohne zu überfordern. J: Wenn also sowohl Technik als auch Ästhetik einem Zwang zur Innovation unterliegen, stellt sich natürlich die Frage, was der Motor dieses Mechanismus ist. Woraus resultiert das Gefallen an der Abwechslung und Weiter­ entwicklung? L: Der Kollege Irving Biederman aus Kalifornien hätte wohl gesagt, dass wir Menschen von Natur aus Informationssucher sind. Ein wichtiges menschli­ ches Merkmal könnte sein, dass wir einen starken Neugierstrieb haben. Wir fühlen uns zwar mit Ver­ trautem sehr wohl, verspüren aber gleichzeitig im­ mer auch Neugier, Neues zu entdecken. Das ist ein wichtiger Antrieb für Interesse an Innovation, in Gebieten wie Design und Kunst. J: Die Neugier wäre somit ein verkleideter evolu­ tionärer Antrieb zur Innovation, sei es technisch oder gestalterisch. L: Gleichzeitig ist es auch ein innerer Modus, über den wir entscheiden, was gut für uns ist, also ein Evaluationswerkzeug. J: Im Forschungsschwerpunkt kooperieren Sie neben verwandten Disziplinen wie der Kunstgeschichte auch mit den angewandten Feldern. L: Anwendungen haben wir immer behandelt, da wir der Meinung sind, dass unsere Forschungsfelder und ­ergebnisse auch für die Gesellschaft und Wirt­ schaft relevant sind. Wir haben beispielsweise er­ forscht, wie Brillendesign die Wahrnehmung von Gesichtern beeinflusst und welche Dimensionen im Autodesign zu einem ästhetischen Eindruck führen. Dahinter steckt natürlich die Idee, dass es äußerst sinnbringend sein kann, solche Erkennt­ nisse umzusetzen. An der Architektur interessiert uns, welche Merkmale unsere Wahrnehmung von Räumen beeinflussen. So haben wir festgestellt, dass Men­ schen runde Räume gegenüber eckigen bevorzugen und hohe Räume positiver wahrgenommen werden. Ob diese Einschätzungen auch mit emotionalen Re­ aktionen im Gehirn übereinstimmen, können wir im Labor überprüfen. Dazu gibt es allerdings noch recht wenig Forschung. Eine klassische Studie von Ulrich beschäftigte sich mit dem Einfluss von Kran­ kenhausarchitektur auf den Heilungsprozess von Patienten und seine Untersuchung zeigte, dass Pa­ tienten, deren Fenster Ausblick auf einen Park er­ laubte, mit weniger Medikamenten schneller geheilt und entlassen wurden als vergleichbare Patienten, deren Fenster nur den Blick auf eine gegenüberlie­ gende Fassade zuließ. Damit konnte er belegen, dass das ästhetische Empfinden ganz reale Konse­ quenzen auf das Wohlbefinden hat. Demzufolge ist es nicht überraschend, dass schöne Dinge länger betrachtet werden. Schönheit bindet sozusagen den Blick. Uns interessiert, welche Rolle Schönheit und ästhetische Anmutung in unse­ rem emotionalen Erleben und Wohlbefinden spie­ len. Die Wahrnehmung von Schönheit ist nicht nur ein Hinweis darauf, dass etwas gut ist, Schönheit tut uns auch gut und fühlt sich eben gut an. N 290 10 | 11 Ich seh’ etwas, das du nicht siehst!

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Klang als Bau-Material | Der Hör-Raum als Lebensraum in einer zunehmend virtualisierten Umwelt der digitalen Kultur Werner Jauk Musikwissenschaftler & Medienkünstler, ao. Univ.-Prof an der KFUG; Leiter des Arbeitsbereiches „pop/musik + medien/kunst“. Erforscht in Wissenschaft und Kunst die Bedeutung auditiver Wahrnehmung. Klang-Raum-Projekte für: steirischer herbst, ars electronica, biennale di venezia. Liquid space Ars Electronica 1999 Werner Jauk, Heimo Ranzenbacher Körperliche Interaktion mit einem in „sicht“bare Form gebrachten Ereignis-Raum. Unsere Vorstellung des Raumes ist primär geprägt vom Sehen und von der abstrahierenden Formali­ sierung des daraus folgenden embodiments im kartesischen Raum: Raum ist ein Behältnisraum, dessen Begrenzende im rechten Winkel zueinander stehen. Unsere alltägliche Erfahrung ist jene des Frontspace vor uns, den wir durchschreitend und damit unendlich generierend erfahren. Jenes Raum­imagery ist im physikalischen wie kulturellen Raum des aufklärerischen Bürgertums nachhaltig verwirklicht, das seinerseits das Sehen mit dem Verstehen zusammenführt. Emanzipation von der Macht der Aristokratie erziele man durch Wissen, durch Einsicht in die „Dinge“ – der Prozess der Ermächtigung wird in belehrenden Sälen der Künste vermittelt. Der politische Raum der Ermäch­ tigung ist jener, den wir vor uns sehen, dem wir auf­ blickend gegenübersitzen. Selbst der Konzertsaal, der bildende Saal des bürgerlichen Musikvereins, ist ein Raum des Sehens; er widerspricht der physikalischen Ausbreitung jenes Mediums, in dem sich Musik physisch verwirklicht: Klang breitet sich kugelförmig aus – die ideologi­ sche Funktion steht vor der sinnlichen Funktion, der adäquaten Wahrnehmbarkeit. Nach den Vorgaben der funktionalen Ästheti­ ken mag im Alltag die Bauökonomie jenes primäre imagery eines Raumes verstärkt haben, das der Plattenbau optimal in das theoretische Konstrukt des kartesischen Raumes einfügt. Nicht nur der Bau des Behältnisraumes, son­ dern auch seine Gestaltung ist visuell dominiert: Licht ist das Medium des Sehens, dieses wird den Raum strukturierend organisiert. Tageslicht wird durch Öffnungen im Behältnisraum (meist funk­ Klang als Bau-Material

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Ein 22 x 5 m großer „Tisch“ verwandelte 2012 den Innenraum des serbischen Pavillons bei der Architekturbiennale in Venedig in einen begehbaren Klangkörper. tional) verteilt; seit der Erfindung des künstlichen Lichtes wird diese Gestaltungsform der gezielten Nutzung der Natur technisch erweitert. Licht gestal­ tet Räume funktional und zugleich emotional nun unabhängig vom täglichen Lauf der Sonne und sei­ ner durch die Ausrichtung und Größe der Öffnun­ gen im Raum in der Konstruktionsphase einmalig berücksichtigten Gestaltungsfunktion. Die Nutzung des Tageslichtes geht mit techni­ schen Entwicklungen zur Statik der Bauphysik einher. Die gezielte Nutzung von Klang ist ebenso an die Entwicklung von Technologien gebunden – zuerst aber an den Umbau von Gedanken. Wir modifizieren diese höchstens durch Verkleidun­ gen zur Brechung oder Absorption von Schall, um ein gewünschtes Klang­„Bild“ zu erreichen. Mit dem Hinweis auf die Beschränkung der technischen Machbarkeit bestärken wir unser tra­ diertes Vertrauen in das Sehen. Wir nehmen auch selten zur Kenntnis, dass selbst diese Dominanz der Gestaltung von Sehräumen musikalische For­ men mitbestimmt hat. Zumindest in musikbezogenen kulturellen Räumen finden sich gegenseitige Beeinflussungen des Visuellen und Auditiven und deren Formalisie­ rung in den Künsten. Entgegen dem ästhetischen Postulat des analysierend verstehenden Hörens auch polyphoner Strukturen nehmen wir die inein­ ander verwobenen Strukturen der Fuge im über­ akustischen barocken Kirchenraum als eine interne Klangbewegung eines stationären Klanges wahr – zur immersiven Verschmelzung mit Gott abseits des Verstehens. Umgekehrt gehen musikbezogene Aspekte vor­ rangig der akustischen Eigenschaften des Klanges in die Bauphysik und damit in die Form und visuelle Gestaltung von Räumen ein – zumindest in funktio­ nal musikbezogene Hallen. Aufführungsorte (ab­ seits des bürgerlichen Lehrsaals) sind Mischfor­ men: Frontspaces, deren Form durch die Ausbrei­ tung der vorne liegenden Schallquellen sich trich­ terförmig der HörerIn zuwenden. Abseits von experimentellen Bauten für raum­ bezogene Musikaufführungen (dieser Experimente) und abseits des avantgardistischen Einblicks in eine digital culture scheint der Primat des Sehens den gebauten Alltagsraum zu dominieren, er scheint auch den kultischen Kunstraum zu dominieren – oder zeigt sich (bereits) in der (um Beschreibung und Erklärung bemühten wissenschaftlichen) „Sicht“ dieser Räume die Dominanz des Sehens? Gilt Musik als Formalisierung des Hörens, so ist der musikalische Aufführungsort wenig am Hö­ ren orientiert. Abgesehen von jenen mit den neuen Technologien der Klangerzeugung, ­modulation und ­distribution entstandenen medialen Räumen sind akustische Kunst­Räume dem Sehen unter­ worfen. Die griechische Tragödie baute sich mit dem Theater eine Schaustätte als Aufführungs­ Warum begnügen wir uns mit dem Klang des Raumes als Artefakte der bauphysikalischen Notwendigkeiten? raum, die wohl auch akustische Informationen (verstärkend und störende Reflexionen vermeidend) an das Volk bringen sollte. Wenn aus dem Geist der Tragödie die Musik geboren sei,1 wenn aus dem die Handlungsinformation emotional aufladenden Chor die Musik entstanden sei, dann hat die Ideo­ logie des bürgerlichen Konzertwesens den musi­ kalischen Aufführungsort radikal zum einsehen­ den Verstehen umfunktioniert. Die multimediale Kunstform Oper hat sich Räume erhalten, die sich an der Schallausbreitung orientieren, aber mögli­ cherweise doch vorrangig das Sehen begünstigen wollen; die Klangquelle, das Orchester, sitzt (noch immer sich danach bezeichnend) im akustischen Graben. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts wer­ den Konzertsäle sich wiederum an der Spezifität der Schallausbreitung orientieren und den Frontspace überwinden, indem sie den Klangerzeuger in der Mitte verorten und der kugelförmigen Ausbreitung des Schalles Raum geben. Räume – embodiments & imageries Der Hörraum 2 ist in wesentlichen Aspekten vom Sehraum unterschiedlich. Beide sind imageries, die wir aus unserer Wahrnehmung als „Wirklichkeiten“ konstruieren. In der visuellen wie akustischen Pers­ pektive interpretieren wir körperliches Erfahrungs­ wissen, embodiments, als „Raum“. Wahrnehmung als Körpertätigkeit, als emotio­ nal motivierte Körper­Umwelt­Interaktion (K­U­I), ist durch die Sinne kontrolliert. Das Zusammen­ spiel der Taktfrequenz unseres informationsverar­ beitenden Systems mit der Frequenz des Übertra­ gungsmediums führt zu unterschiedlichem Zeit­ und damit Raumerleben, zu einer spezifischen „auditory logic“.3 Die hohe Frequenz der Lichtwel­ len erlaubt die Abbildung des „Augenblickes“ im psychischen Moment. Die relativ langsamen Schall­ wellen bilden sich im Moment nicht ab; Prozesse 1 Nietzsche, F. (1872). Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig: Fritzsch. 2 Blauert, J. (1974). Räumliches Hören. Stuttgart: S. Hirzel. 3 Jauk, W. (2000). The Auditory Logic: An Alternative to the „Sight of Things”. In: H. Nowotny, M. Weiss & K. Hänni (Hrsg.), Jahrbuch des Collegium Helveticum (S. 321–338). Zürich: Hochschulverlag AG an der ETH Zürich. 290 12 | 13 Klang als Bau-Material

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der Maskierung (von wenig intensiven Ereignissen durch intensivere) machen den Hörmoment präg­ nant, Summation führt diese Momente in eine Zeitreihe. Das Hören ist demnach stets ein Vorgang in der Zeit; er bildet Bewegung jenes Reizes ab, der selbst aus Bewegung hervorgegangen ist – Klang ist Artefakt von Bewegung. 4 Zillmann, D. (1988a). Mood management through communication choices. American Behavioral Scientist 31, S. 327–340. 5 Jauk, W. (2007). The Visual and Auditory Representation of Space and the Net-Space, in: Musicological Annual, XLIII/2, Ljubljana 2007, S. 361–370. Somit steht die unterschiedliche Wahrnehmbarkeit der Medien Licht und Schall mit der Notwendigkeit zur Bewegung des eigenen Körpers in systematischem Bezug, um Raum in einem Zeitgefüge wahrnehmen zu können. Der visual space ist die Interpretation von Dynamik durch eigene Bewegung, der auditory space ist die Interpretation von Bewegungen der Umwelt. Der Hörraum ist von uns nicht kontrollierbar und (dadurch) hoch emotional besetzt. Warum begnügen wir uns, ihn als Artefakt der Bauphysik hinzunehmen oder lediglich einmalig im Bau zu gestalten, und gestalten ihn nicht variabel je nach funktionalen und damit emotionalen situativen Anforderungen? Musik als Formalisierung des Hörens, das uns die emotionale Bedeutung von Bewegungen um uns vermittelt, wird im alltäglichen Lebens­ raum zu dessen emotionaler Gestaltung genutzt. Im Moodmanagement 4 affirmieren wir good moods und kompensieren bad moods vor allem durch die Erregung, die durch Klang als (intentionale Moti­ vation zum Verhalten) ausgelöst wird. Kann dies ein Paradigma für den Bau von Räumen als Hör­ raum sein? Der Bau des Hörraums Klang informiert nicht nur über die Bewegung sei­ nes Erzeugers, sondern auch über den Transport der Information zu den Rezeptoren. Der bewegte Erzeuger schwingt meist in mehreren Teilbereichen, deren Summe eine spezifische Schwingungsform erzeugt, die wir als spezifischen Klang hören. Diese Bewegung wird an die umgebende Luft über­ tragen und dort weitergeleitet. Dämpfung durch Energieverlust aufgrund der Bewegung der Luft­ moleküle betrifft zuerst die amplitudenschwäche­ ren kleineren Schwingungsanteile. Der Hörein­ druck des Klanges wird am Transport durch das Medium Luft mit zunehmender Distanz von Erzeu­ ger und Rezeptor dumpfer und leiser. Raumbegren­ zende Flächen und Gegenstände im Raum wirken je nach Beschaffenheit und daher Eigenschwin­ gungsfähigkeit als Verstärker oder Abschwächer von Klanganteilen, als Reflektoren bzw. als Absor­ ber; sie modulieren den Klang in seiner Ausbreitung spezifisch. Der wahrgenommene Klang trägt also auch Information über den Weitertransport und damit den Raum in sich. Experimente zeigen, dass selbst räumlich indif­ ferenter Klang nicht nur Raumgrößen­Eindrücke hervorruft, sondern auch den Eindruck spezifischer Lokalisation von Klang als kognitive Interpretation von embodiments; Klangmodulationen führen zu spezifischen Bewegungs­Eindrücken von Klängen im Raum – all diese Illusionen sind zugleich emotio­ nal besetzt.5 Räume klingen ob ihrer Größe und Beschaffen­ heit spezifisch – allein Luftbewegung in ihnen führt zu spezifischem Rauschen. Diese Informationen sind nicht nur Informationen über die physikalische Beschaffenheit, sondern zugleich auch emotionale Informationen, die intentional als motivationale Größe auf das Verhalten wirken – auch als Raumin­ formation erregt bzw. beruhigt somit Klang, dessen Wirkung sich unsere Wahrnehmung auf natürliche Weise nicht entziehen kann. Klang als Bau-Material

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6 Riemann, H. (1914/15). Ideen zu einer „Lehre von den Tonvorstellungen“. In: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters: 21/22 (S. 1–26). 7 Jauk, W. (2003). The Transgression of the Mechanistic Paradigm – Music and the New Arts. Dialogue and Universalism, 8–9, S. 179–186. 8 Flusser, V. (1994). Häuser entwerfen. in: vom Subjekt zum Projekt/ Menschwerdung. Düsseldorf: Bollmann Bensheim. Der Hörraum als Alltagsraum Was an bedeutsamen Orten des öffentlichen Raumes Wert hat, sollte wertvoll sein für das private Heim – im sozialen Wohnbau als psychohygienische Institu­ tion des Alltags. Durch technisch gemachtes „Kunst“­Licht, also abseits der Natur und der einmaligen Anpassung an diese im Bau, Räume funktional und emotional zu gestalten, folgt einer die Natur beherrschenden Vor­ stellung von Kultur, die durch die Entwicklung tech­ nischer Fertigkeiten die natürlichen Zyklen des Jahres, des Tages überwindet – eine Art Mediamorphose der technischen Entwicklungen zur Gestaltung von Raum führte zu sozialen und ästhetischen Veränderungen, letztlich zu einem funktional ästhetisierten Alltag. Ist variable und interaktive Lichtgestaltung von Räumen im engsten Sinne des Wortes alltäglich und nutzt der Mensch Klang in Form von Musik im Alltag als psychohygienisches Regulativ über die techni­ schen Massenmedien zunehmend auch individuali­ siert on demand, so ist die Weiterführung dieser Moodmanagements auf die klangliche Gestaltung des Raumes parallel zur Licht­Gestaltung und Musik­ Nutzung meist noch eine unvorstellbare Größe. Eher dem tradierten (und wohl auch ideologisch affirmierten) Denken der Architektur als physisches Bauen kommt die technische Machbarkeit des Mate­ rials Klang entgegen. Klang kann auch als „Wall of Sound“ gebaut wer­ den. Darunter werden nicht die von Phil Spector in den sixties über geschichtete Klänge und Hallfahnen erzeugten Klangmaßen verstanden, auch nicht Klang aus Membranboxen­Wänden, sondern Klang, der al­ lein an bestimmten Stellen im Raum „aufgebaut“ wird und damit lokal hörbar ist ohne sichtbares de­ vice. Technisch wird dabei Klang auf Trägerwellen aufmoduliert. Damit können „walls“ gebaut werden, die der akustisch kontrol­ lierten Körper­Umwelt­Interaktion entgegenstehen, die das Sehen durchdringen kann; mit diesem phy­ sischen Material Klang können spezifisch informa­ tionsdurchlässige soziale Räume gebaut und struktu­ rierend gestaltet werden. Die Koppelung dieser orts­ begrenzten Lokalisation von Klang mit dem Illusion­ Raum als Konstruktion der Wahrnehmung kann die Raum­in­Raum­Konstruktion verstärken. Für die Architektur ergeben sich neue Möglich­ keiten, mit dem neuen Baustoff, Klang als Medium der „Materie“, neue Wirklichkeiten als Lebensräume zu „bauen“ und/oder zu gestalten. Letztlich ist Musik dafür das Vorbild: die Erschaffung der Wirklichkeit „Werk“ durch das willentliche Zusammen­Setzen (Componere) von Codes für Klänge nach dem „bezie­ henden Denken“6 – Konstruktionen, die dann letzt­ lich danach verstehbar, aber als durch Spannung­ Lösung geregeltes Klangkonstrukt (körperlich) wahr­ genommen werden. Algorithmische Architektur beschränkt sich meist auf das kybernetische Spiel. Das Zusammensetzen von Klängen baut aber nicht nur spannungsgeregelte Musik und nach die­ sem Paradigma emotionale Ereignis­ und Wahrneh­ mungs­Räume, Klang ist ein Paradigma einer Inter­ aktionsform, die Räume der digital culture definiert – der Klangraum ist ein Ereignisraum. Ist dieser in Musik formalisierte Ereignisraum Paradigma der Ar­ chitektur einer dynamisierten Kultur der Virtualität? Hörraum und virtuelle Räume aus Interaktionen Technische Entwicklungen, vor allem die Beschleunigung und Codierung von Wirklichkeit, haben die Umwelt und die Interaktion mit ihr verändert – die Konstante im Wahrnehmungsgefüge blieb der Körper. Seine Funktion in der dynamisierten Virtualität der Immaterialität hat sich allerdings verändert: Eine von der Materialität befreite Virtualität befreit den Körper zunehmend von seiner Funktion als mechanisches Instrument in der Interaktion mit der Umwelt und fördert sein hedonisch motiviertes Auswahlverhalten aus den vorhandenen Ereignis­ sen der Umwelt als hedonisches Instrument nach der Transgression des Mechanischen in der digital culture.7 Den Raum erlebt der Körper als dynami­ schen Ereignisraum indem er ihn durch hedonisch motiviertes Auswahlverhalten bei mechanisch körperlicher Inaktivität definiert – dies entspricht dem Erleben des auditory space. Es sind implizite Prozesse der Übernahme: Die forschende Medienkunst beachtet Datenräume als auditive Ereignisräume sowie Klangräume als Paradigma der Interaktion mit dynamischen Daten­ räumen; die Architektur einer mediatisierten Lebens­ welt berührt das Paradigma des auditory space. Dies bedeutet, dass sich durch Interaktionen definierte Räume nicht nur als physische Kommu­ nikationsräume darstellen, die sich durch die eigene Bewegung im Verein mit wahrnehmbaren Fremd­ bewegungen aufbauen, sondern (auch) als virtuelle Räume nach einem „anderen“ Paradigma als dem der visuell mechanistischen Architektur funktio­ nieren: der Fremdbewegung bei eigenem „Still­ stand“ in einer zum rasenden Stillstand beschleu­ nigten Gesellschaft. Der Lebensraum ist ein dyna­ mischer Ereignisraum, das Haus der digital culture ein um den Körper befindliches, zugleich offenes und informationsdurchflossenes.8 Der Hörraum scheint in dieser sich durch Technologie beschleu­ nigten (Um)Welt ein dem Überleben des Körpers dienliches Paradigma der Interaktion zu sein. Baut Architektur Lebensräume für den Körper in einer virtualisierten Umwelt, dann wird Archi­ tektur jene technologiebedingte Mediamorphose mitvollziehen müssen: die Abkehr von der Domi­ nanz des visual space und die Zuwendung zum auditory space. N Diese Spielart des Raumbaus ist eine physikalische und die Übertragung materiellen Bauens auf das Material Klang. 290 14 | 15 Klang als Bau-Material

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Spürbare Wirkung | Zur Notwendigkeit einer veränderten Interaktion von Gebautem und Sozialem1 Cordelia Polinna (1975) Studium in Berlin und Edinburgh, 2007 Promotion zum Thema „Towards a London Renaissance“. 2008 Gründung des Büros Polinna Hauck Landscape + Urbanism, 2009 Gründung der Initiative „Think Berl!n“. Seit 2011 Gastprofessorin für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin. 1 Für Anregungen und Kritik danke ich Thomas Maatz. 2 Klaus Brake, Interdependenzen zum Strukturwandel, in: Klaus Brake, Günter Herfert, Reurbanisierung, Wiesbaden, 2012, S. 23–24 3 Dieter Läpple, Thesen zur Renaissance der Städte in der Wissensgesellschaft, in: Norbert Gestring et al. (Hg.), Jahrbuch StadtRegion 2003, Opladen, 2004, S. 61–77 Vielerorts nehmen Stadtbewohner die Begrünung ihrer Umwelt als Guerilla Gardener selbst in die Hand. Dass sich das Verhältnis von Architektur, gebauten Strukturen, aber ebenso städtebaulichen Struktu­ ren und Freiräumen sowie dem Sozialen in einer Krise befindet, ist kaum mehr von der Hand zu weisen. Vielfältig und komplex sind die Herausfor­ derungen, vor denen urbane Räume, also vor allem unsere weithin geschätzten europäischen Städte mit ihren historischen Stadtkernen, und dem oft autogerechten Umland stehen: Zu bewältigen sind nicht nur die Energiewende und die Anforderungen des Klimawandels. Auch der demografische Wan­ del – der nicht nur die Alterung der Gesellschaft und regionale Wanderungsbewegungen der Bevöl­ kerung, sondern Migration und Integration umfasst – ist ebenfalls ein Themenkomplex, für den vorran­ gig in urbanen Räumen Lösungen zu finden sind. Eine abnehmende Bevölkerung, konfrontiert mit zunehmenden sozialen Spaltungen, muss sich also unter steigenden klimatischen Belastungen mit dem existierenden städtebaulichen Bestand aus­ einandersetzen – und das bei abnehmender Steue­ rungsfähigkeit der öffentlichen Hand. Diese besonderen Herausforderungen stellen sehr hohe Ansprüche an Architektur und Städtebau und erfordern ein Umdenken im Verhältnis von Gebautem und Sozialem. Eine bloße Interaktion über die Fassade oder über den Konsum des Gebäu­ des nach dem Motto „Man betritt ein Bauwerk und nutzt es nach standardisierten Vorgaben für einen genau definierten Zweck“, die oft sehr rigide zwi­ schen Entwerfer, Produzenten und Bauherren auf der einen sowie Nutzern und Konsumenten auf der anderen Seite unterscheidet, ist angesichts der aktuellen Situation nicht länger haltbar. Doch so eine Kritik an der bestehenden Interaktion kann nicht an der Gebäude­ oder Grundstückskante en­ den. Sie betrifft auch die ökonomischen Vorausset­ zungen sowie Vorgaben der Verwaltung, die ein Bau­ projekt maßgeblich definieren. Die Interaktion ist eingebettet in einen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, der sich in einem steten Wandel befindet. Der Funktionalismus früherer Epochen steht ein­ mal mehr zur Disposition – doch durch welche Qua­ litäten müssen sich die Schnittstellen zwischen Gebautem und Sozialem heute auszeichnen? Um diese Qualitäten definieren zu können, müssen zunächst noch einmal die Gründe für die aktuelle Krise näher betrachtet werden. Die Be­ wohner der Städte, die Nutzer von Architektur wollen heute mehr denn je entscheiden, welche Art von Stadt entsteht. Infolge konfliktreicher Pro­ jekte wie Stuttgart 21 oder der Debatte um die Be­ bauung des Berliner Mauerstreifens entlang der East Side Gallery mit Luxusappartements wächst der Widerstand gegen eine „Pseudo­Beteiligung“, die oft nicht mehr ist als Information, die als „zu spät“ wahrgenommen wird, die keine wirklichen Alter nativen aufzeigt, in denen die Einflussmög­ lichkeiten höchst ungleich verteilt sind. Mehr noch, die Menschen wollen selbst Akteure der Stadtproduktion werden. Die heutige, von zunehmender Entgrenzung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit geprägte Ära, die dem Einzelnen hohe Flexibilität und Mobilität ab­ verlangt, aber auch Unsicherheit zumutet,2 führt offenbar bei vielen Menschen zu einer Gegenreak­ tion. Gerade die im Beruf immer stärker geforderte Mobilität und das Agieren auf internationaler Ebene – ob real oder digital – scheint bei vielen Menschen das Bedürfnis auszulösen, sich im Pri­ vaten eher auf das Lokale, Regionale zu konzen­ trieren, eine Tendenz, die mit dem Begriff „Rück­ bettung“ bezeichnet wird.3 Um Beruf, Familie und Freizeit besser miteinander zu vereinbaren, aber Spürbare Wirkung

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4 Alexander Demling: Studenten als Vermieter: Wir kaufen uns ein Haus, ein kunterbuntes Haus, in: Spiegel, 14. 03. 2013, www.spiegel.de/ unispiegel/studium/ studenten-kaufen-einhaus-und-werdenvermieter-a-888184.html 5 www.syndikat.org/; Bernard Hummel, Das Mietshäuser Syndikat, in: Arch+ 201/202 Berlin, März 2011, S. 124 6 Montag Stiftung Urbane Räume, Raumunternehmen und die Aktivierung von Nachbarschaften, Bonn 2012 7 Nesta (Hg), Compendium for the civic economy, London 2011 8 No.10 Downing Street, Government launches Big Society programme, 10. 05. 2010, in: www.number10.gov.uk/ news/big-society/ vermieter-a-888184.html 9 Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung, Berlin 2012 auch um sich selbst zu verwirklichen, starten viele Stadtbewohner urban­gardening­Projekte, engagie­ ren sich in lokalen Initiativen, konsumieren lokal produzierte Produkte. Verstärkt wird dieser Wunsch nach umfangrei­ cherer Mitwirkung dadurch, dass nach der Finanz­ und Immobilienkrise deutlich wurde, dass alther­ gebrachte ökonomische Modelle an ihre Grenzen stoßen. Seitdem werden Machtverhältnisse der Raumproduktion nicht mehr nur von linken Gruppierungen, sondern mehr und mehr auch vom gesellschaftlichen Mainstream infrage ge­ stellt.4 Organisationen wie das Mietshäusersyndi­ kat, dessen Ziel es ist, dem von Spekulation gepräg­ ten Wohnungsmarkt dauerhaft Objekte zu entzie­ hen und „Gemeineigentum an Haus und Grund, bezahlbaren Wohnraum und Raum für Gruppen und politische Initiativen … in Selbstorganisation“5 zu schaffen, können sich vor Interessenten kaum retten. Altbekannte Formen des gemeinschaftli­ chen Eigentums wie Allmenden (engl. commons), Genossenschaften und Stiftungen, die der Gemein­ nützigkeit unterliegen, erleben eine Renaissance, speziell wenn es darum geht, in attraktiver und teurer werdenden Städten bezahlbare Wohn­ und Lebensräume zu sichern. Aber auch auf andere wirt­ schaftliche Aktivitäten werden diese Modelle über­ tragen. Begriffe wie „Raumunternehmen“6 oder „civic economy“7 bezeichnen das gemeinwohlorien­ tierte Wirtschaften, das durch eigeninitiative Raumaneignung und –nutzung im Rahmen von Bottom­up­Prozessen möglich wird. Hier stehen eher Nutzeransprüche, die Verwirklichung eigener Ideen und soziale Auswirkungen des Unternehmens im Vordergrund und nicht die Gewinnmaximie­ rung. Immer mehr Akteure in der Stadt machen deutlich, dass solche gemeinwohlorientierten Unternehmen oder Bauprojekte eine Alternative zu herkömmlichen Investorenmodellen sein kön­ nen und eine positive Wirkung auf das Stadtquar­ tier entfalten können, etwa indem sie Platz für nicht kommerzielle Nutzungen bieten oder Ge winne wie­ der in das Quartier reinvestieren, wodurch sich Netzwerke bilden und die lokale Ökonomie gestärkt wird. Flankiert werden diese Prozesse von einer sich dramatisch verändernden Rolle der öffentlichen Hand. Infolge von Kürzungen bei Personal und Fördergeldern verliert die Verwaltung Handlungs­ spielraum, während private Investoren und zivil­ gesellschaftliche Akteure bedeutender werden. Darüber hinaus nehmen negative Effekte einer Fragmentierung der Verwaltung wie übermäßige Konkurrenz, Abstimmungsprobleme oder ein iso­ liertes Agieren aus Einzelinteressen heraus zu und wirken kontraproduktiv. Als Lösung für die Über­ lastung der Verwaltungen werden immer mehr Funktionen abgebaut, ausgelagert oder privaten sowie gemeinnützigen Akteuren überlassen. Weil eingespart werden muss, was früher selbst­ verständlich war, etwa die Pflege von Grünflächen, wird auch die Bevölkerung zu mehr Eigeninitiative und Selbstorganisation aufgerufen. Diese Vorge­ hensweise eröffnet Spielräume für Selbstorganisati­ on, im Bildungsbereich (durch Gründung von freien Schulen), im Wohnungsbau (Baugruppen) oder in Nachbarschaften (Kiezinitiativen), die durchaus ge­ nutzt werden und so eine Alternative zu staatlichen oder privatwirtschaftlichen Angeboten darstellen. Mehr Mitwirkung und Beteiligung bei gleichzeitiger Deregulierung und Reduzierung staatlicher Ressourcen bedeuten dennoch einen Balanceakt. Problematisch sind nicht nur die begrenzten gesell­ schaftlichen Zugangsmöglichkeiten, solch selbstbe­ stimmte Angebote zu entwickeln und umzusetzen, wobei es nicht nur auf vorhandenes monetäres Kapital ankommt, sondern ebenso auf verfügbare Zeit, fachliche und soziale Kompetenz, Vernetzung, Beharrungsvermögen im Umgang mit Behörden etc. Auf Selbstbestimmung basierende Modelle der Stadtentwicklung gewährleisten also nicht von vornherein größere Chancengleichheit und Mit­ wirkungsmöglichkeiten „für alle“ und entlassen daher den Staat nicht aus seiner gesellschaftlichen Ausgleichspflicht. „Zivilgesellschaftliches Outsour­ cing“ ordnet sich durchaus auch in die Logik von neoliberalen Stadtentwicklungsstrategien ein: Alles wird privatisiert, sogar die Verschönerung des eigenen Wohnumfeldes. Dass dies kritisch ge­ sehen werden sollte, wird bei den aktuell in Groß­ britannien forcierten Bemühungen deutlich, eine „big society“ aufzubauen.8 Ziel dieser Idee, die mit dem „localism act“ mittlerweile gesetzlich veran­ kert wurde, ist es, Politikern und der Verwaltung Macht und Aufgaben abzunehmen, diese zu dezent­ ralisieren und auf Bewohner, den Freiwilligen­ sektor und auf private Unternehmen zu übertragen. Bewohner von Stadtteilen sollen sich ehrenamtlich an Entscheidungen zu Planungsprojekten oder der Pflege von öffentlichen Räumen beteiligen. Das kann als Reaktion auf lauter werdende Rufe nach mehr Bürgerbeteiligung interpretiert werden, ist aber gleichzeitig als pragmatische Lösung bei der Suche nach Einsparmöglichkeiten in den sin­ kenden Budgets der öffentlichen Hand zu werten. Doch an welchen Stellschrauben muss gedreht werden, um die Schnittstellen zwischen Architektur bzw. Städtebau und Freiraumplanung auf der einen und den skizzierten gesellschaftlichen Anforderun­ gen neu auszurichten? Die zunehmenden Proteste gegen größere und kleinere Planungsprojekte, die wachsende Zahl von Bürgerinitiativen und von Volksbegehren sind Indikatoren dafür, dass das Verständnis von Partizipation und Mitwirkung viel umfassender neu definiert werden muss, als das aktuell in Politik und Verwaltung angedacht ist. Prinzipiell stellen Veröffentlichungen wie das „Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung“9 des deutschen Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und das „Handbuch 290 16 | 17 Spürbare Wirkung

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J & L Gibbons Landscape Architects und muf architecture/art konzipierten im Rahmen von „Making Space in Dalston“ einen unterbrochenen Park. Spürbare Wirkung

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10 Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin (Hg.), Handbuch zur Partizipation, Berlin 2011 11 ebd., S. 47 12 www.haushalten.org 13 Zur Arbeit von Design for London siehe Tobias Goevert, Cordelia Polinna, Zehn Jahre Greater London Authority. Designing London – die Rückkehr zur städtebaulichen Planung, in: Planerin, 06/2010, S. 35–38. Die Abteilung wurde im Frühjahr 2013 aufgelöst. 14 Long, Kieran, Is this what you mean by localism? London 2012, in: www.designforlondon. gov.uk/uploads/media/ Is_this_what_you_ mean_by_localism.pdf 15 www.designforlondon. gov.uk/what-we-do/#/ dalston-town-centre zur Partizipation“10 der Senatsverwaltung für Stadt­ entwicklung und Umwelt Berlin Schritte in die rich­ tige Richtung dar, doch wird bei Lektüre und prakti­ scher Umsetzung immer noch deutlich, dass in der Verwaltung eine große Skepsis gegenüber zu viel bürgerlicher Mitbestimmung vorhanden ist und durchaus auch Angst vor Kontrollverlust herrscht.11 Um Formen einer wirklichen Interaktion zu entwi­ ckeln, die auf Transparenz durch einen frühzeitigen und umfassenden Informationsfluss und auf geeig­ neten – entwerferischen – Methoden zur Verhand­ lung der unterschiedlichen Interessen basieren, sind noch eine Menge Arbeit sowie ein deutlicher Mentalitätswechsel erforderlich. Weil neben Partizipationsmöglichkeiten die öko­ nomische Situation des Immobilienbesitzes maßgeb­ lich über Gestaltungs­ und Nutzungsmöglichkeiten städtischer Räume entscheiden, wird klar, dass wirkli­ che Mitbestimmung nur über ökonomische Teilhabe an Stadtentwicklungsprozessen möglich wird. Leipzig kann in Anbetracht des massiven Leerstands nach 1990 als Vorreiter bei Zwischennutzungs­ und „Self Made City“­Projekten gesehen werden. Hauseigentü­ mer, die mit einer minimalen Nachfrage konfrontiert waren, sahen sich gezwungen, mit den wenigen poten­ ziellen Interessenten zu kooperieren – mit Kreativen, mit nicht kommerziell ausgerichteten Initiativen –, wenn sie lang andauernden Leerstand und damit ei­ nen möglichen Verfall der Gebäude verhindern woll­ ten. Über den Verein „HausHalten e. V.“12 wurden zeit­ lich begrenzt Räumlichkeiten für kreative, unkonven­ tionelle Nutzungen vor allem für leer stehende Gebäu­ de in städtebaulich bedeutsamen Lagen, etwa an den Hauptstraßen der Gründerzeitviertel, vermittelt. Die Nutzer dieser sogenannten „Wächterhäuser“ zahlen nur die Nebenkosten, nehmen dafür aber Abstriche bei der Qualität des Gebäudes in Kauf. Die Nutzung trägt dazu bei, das Gebäude instand zu halten, und belebt den Stadtraum. Mit diesem überzeugenden Konzept hatte der Verein schnell die Verwaltung auf seiner Seite, für die es im Vordergrund stand, die Ge­ bäude vor dem Abriss zu bewahren. Zu verdanken ist die Möglichkeit der Umnutzung nicht zuletzt den an­ passungsfähigen und langlebigen baulichen Struk­ turen der typischen Leipziger Mietshäuser, die mit ihren großzügig geschnittenen Räumen, den Läden in der Erdgeschoßzone vielfältige Nutzungskonfigura­ tionen ermöglichen. Mitunter sind aus diesen Zwi­ schennutzungen dauerhafte Nutzungen entstanden. Die Wächterhäuser haben oft zur Aufwertung beige­ tragen, sodass die „Pioniernutzer“ verdrängt und zu Opfern ihres eigenen Erfolgs wurden. Im Londoner Stadtteil Dalston hatte ein umfang­ reicher Bürgerbe­ teiligungsprozess, der von der Städte­ bauabteilung des Londoner Bürgermeisters, Design for London,13 nach heftigen Protesten gegen ein Großprojekt initiiert worden war, ergeben, dass im Gebiet ein Bei vielen vergleichbaren Herangehensweisen wird deutlich, dass temporäre Nutzungen ein wichtiges Vehikel sind, um auszutesten, ob selbstbestimmte, gemeinschaftliche Projekte überhaupt an einem bestimmten Ort funktionieren. großer Mangel an Grünflächen besteht.14 Gemein­ sam mit den Büros J&P Gibbons Landscape Archi­ tects und muf architecture/art wurde das Konzept eines „unterbrochenen Parks“ entwickelt, zu dem zahlreiche halböffentliche Räume wie die oft kaum nutzbaren Freiflächen von Wohnsiedlungen aus den 1960er­Jahren, Parkplätze oder Schul­ und Kirch­ höfe zusammengefügt werden. Das brachliegende Bahngleis „Eastern Curve“ wurde von dem Künst­ lerkollektiv EXYZT im Sommer 2010 in einen Garten mit Pizzabäckerei umgewandelt. So wurde – unter Einsatz überschaubarer finanzieller Mittel – zu­ nächst ausgetestet, ob diese Fläche von den Nutzern angenommen wird. Im darauffolgenden Jahr wurde dann in enger Zusammenarbeit von Bewohnern, dem nebenan ansässigen Arcola Theatre und ande­ ren lokalen Initiativen ein community garden ange­ legt. Weitere der im Rahmen der Strategie „Making Space in Dalston“15 umgesetzten Projekte verdeutli­ chen, dass die von den Bewohnern geäußerten Vor­ stellungen zur Verbesserung der Aufenthalts­ und Wohnqualität im Quartier eng mit gestalterischen Fragestellungen verknüpft sind. Der Gillett Square, ein ehemals als Parkplatz genutzter Raum etwas abseits der lokalen Einkaufsstraße, wurde so umge­ staltet, dass er jetzt ein multifunktionaler öffentli­ cher Raum ist und vielfältigen Bedürfnissen gerecht wird. Eine Firma, die bislang auf dem Parkplatz ihre Dienste als Autowäscher anbot, kann das weiterhin tun, jedoch nicht mehr mitten auf dem Platz, son­ dern etwas am Rande. Abends kann der Platz als Freilichtbühne für einen im angrenzenden Gebäude residierenden Jazzclub genutzt werden, samstags verwandeln temporäre Spielgeräte, die in einem Container untergebracht sind, den Raum in einen Kinderspielplatz. Deutlich wird bei all diesen Projekten, dass Nut­ zungsoffenheit und Anpassungsfähigkeit zentrale Voraussetzungen dafür sind, eine bessere Interakti­ on zwischen den Bewohnern des Quartiers und den gebauten Strukturen zu ermöglichen. Insbesondere in der zeitlichen Staffelung und im temporären Aus­ testen von Nutzungen liegen große Potenziale, wie bei schrumpfenden Ressourcen viele verschiedene, auch auf den ersten Blick widersprüchliche Nut­ zungsvorstellungen realisiert werden können. Wichtig ist aber – und das wird vor allem in Städten wie Leipzig oder Berlin deutlich, die noch enorme Freiflächen besitzen –, Möglichkeitsräume offenzu­ halten. So können sich zumindest Teile der Stadt, ausgehend von den Ideen der Bewohner, zu einem kollektiven Laboratorium für Lebensentwürfe von morgen entwickeln, die ein besseres Verhältnis zwi­ schen Gebautem und seinen Nutzern aufweisen und exemplarisch aufzeigen, wie den großen Herausfor­ derungen der Städte begegnet werden kann. N Spürbare Wirkung

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traktat über die vergeudung der wahrheit in der architektur | (fragment) Jan Tabor Geboren in Podebrady, Architekt, Architekturtheoretiker, Kulturpublizist und Ausstellungsmacher. Studium an der Technischen Universität Brünn sowie der Hochschule für Bodenkultur und der TU Wien. Als Journalist für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften tätig. 1992 bis 2009 Lehrbeauftragter an der Universität für angewandte Kunst in Wien sowie seit 2000 Gastprofessor an der Akademie der bildenden Künste Bratislava. ungeheure anstrengungen haben generationen von architekten unternommen, um das wesentliche in der architektur, die konstruktion, zu verstecken. so zu verstecken, dass der eindruck entsteht, als ob es sie, die konstruktion, das unerlässlich we­ sentliche an der architektur, überhaupt nicht gäbe. trotz mancher interessanter unterbrechung dieser uralten gewohnheit und gängigen praxis der gegen­ wart geht diese vergeudung der architekturarbeit (um adolf loos zu paraphrasieren) unvermindert weiter. unbeirrt durch die wieder und wieder zurück­ kehrenden rufe nach architektonischer wahrheit, wie immer diese wahrheit letztlich verstanden und genannt wird. das muss einen grund haben. anmerkung: es gibt mehrere gründe, selbstre­ dend. Nehmen wir einen. psychoanalytisch betrach­ tet, könnte eine narzistische kränkung im spiel sein. der wiener psychoanalytiker samy teicher erklärt es: der architekt hält sich für einen künstler und wird bei der freien entfaltung seiner begabung durch viele vaterfiguren ununterbrochen behindert beziehungs­ weise ist von ihnen abhängig gemacht, von bauher­ ren, baubeamten, bauigenieuren, bautechnikern, bauökonomen, stadtbildkommissären und denk­ malschutzamtangehörigen, von wettbewerbsaus­ schreibern und wettbewerbsjuroren und nicht zu­ letzt, am ende all der anstrengungen, von den ge­ schmacksrichtern, die sich architekturkritiker oder architekturtheoretiker nennen, ästhetisch taxiert, gegebenenfalls zurechtgewiesen. wie wichtig die sozusagen reine konstruktion für die geschichte und wahrnehmung der architek­ tur ist, geht daraus hervor, dass das wohl berühm­ teste bauwerk der welt, der eiffelturm, das werk eines konstrukteurs ist. dass das erste bauwerk der modernen architektur, der kristallpalast, das ausstellungsgebäude für die 1. weltausstellung in london 1851, das werk eines gärtners war und das aufregendste, obwohl nicht verwirklichte architek­ turprojekt, der „turm der III. internationale“, das werk eines bildenden künstler ist, wladimir tatlin. so auch die – sowohl was die technische als auch ge­ sellschaftliche konstruktion betrifft – anregendste stadtutopie des 20. jahrhunderts, the „new babylon“, das werk eines künstlers ist, des malers und situatio­ nisten constant. geschichtlicher exkurs I: die suche nach der wahrheit (in der literatur, im leben) begann johann wolfgang goethe mit seiner zwischen 1811 und 1833 verfassten autobiografie „aus meinem leben. dichtung und wahrheit“. die wahrheitssuche in der architektur, die unvergleichbar mühevoller und verlogener ist als jene in der literatur, geht vor allem auf eugène viollet­le­duc zurück. in „entretiens sur l’architecture“, der abschrift seiner 1853 an der école des beaux­arts gehaltenen vorlesungen, schreibt er: „die wahrheit in der architektur bestimmen zwei dinge. sie muss wahrhaftig sein im hinblick auf das bauprogramm und im bezug zu den konstruk­ tionsmethoden. wahrhaftigkeit bezüglich des pro­ gramms bedeutet, dass die anforderungen an einen bau genau und einfach wie erforderlich zu erfüllen sind; die wahrhaftigkeit hinsichtlich der konstruk­ tionsmethoden bedeutet, dass man die werkstoffe verwendet gemäß ihrer qualitäten und eigen­ schaften … rein baukünstlerische fragen der symmetrie und der sichtbaren formen gelten, verglichen mit unseren hauptprinzipien, lediglich als sekundäre prinzipien.“ die verschleierungsbemühungen nannte man baukunst. anmerkung: die vergangenheitsform deshalb, weil der begriff baukunst heutzutage kaum noch verwendet wird. die architekturmäßigen vorleis­ tungen der ingenieure nennt man nicht ingenieur­ kunst. schon sprachlich geht es nicht. das kompo­ situm ingenieurkunst wäre ein oxymoron. das be­ deutet aber nicht, dass das werk der ingenieure nicht als kunst betrachtet werden kann. persönlicher exkurs I: der ergründung der ar­ chitektonischen merkwürdigkeit, in der unwahrheit das hauptprinzip der architektur zu sehen, gehe ich nach, seitdem es das haashaus von hans hollein gibt. genau genommen: seitdem es den rohbau des haashauses von hans hollein einmal vorübergehend gab, bevor er in der postmodernen beschleierung verschwand. der anstoß kam von einem architektur­ kritiker. da die umstände der demolierung des alten haashauses und die verwirklichung des neuen haas­ hauses derart ungewöhnlich waren, dass wir da­ mals alle zusammen – die allgemeinheit, die allge­ meinjournalisten vor allem und auch die spezial­ journalisten, die architekturkritiker – wie gebannt auf das flott neben dem gotischen dom wachsende neubarocke bauwerk des starbaukünstlers hans hollein starrten und auf die erste passende gelegen­ heit warteten, das moralische beziehungsweise ästhetische urteil über das scharf beeobachtete bauvorhaben fallen zu lassen. anmerkung: das ästhetische ist die spezialform des moralischen, insbesondere in der architektur. den wettlauf um die prestigeträchtige erste veröffentlichung einer ästhetischen meinung zum haashaus gewann mit großem vorsprung der füh­ rende österreichische architekturtheoretiker otto kapfinger, damals, zur zeit des haashausbauens, der architekturkritiker der tageszeitung die presse. er unterzog das im fortgeschrittenen stadium 290 20 | 21 traktat über die vergeudung der wahrheit in der architektur

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befindliche unfertige bauwerk einer architekturkri­ tischen analyse und befand, der rohbau sei hässlich. diese vorgangsweise, das ästhetische urteil vor der fertigstellung eines werks kundzumachen, war in der architektur ungewöhnlich, um nicht zu sagen völlig daneben. auf eine weise doch auch revolutionär. in wirklichkeit war der rohbau des haashauses viel interessanter als sein endbau, das heißt viel kunstvoller als der damals sozusagen vorliegende baukunstwollende feinbau nach der vollständigen fertigstellung beziehungsweise dem bald nach der inbetriebsnahme erforderlich gewordenen umbau des inneren. dass das konzept einer mehrgeschoßigen bou­ tiquen­rotunde nicht funktionieren würde, wurde rasch offensichtlich, das geschäftshaus musste in­ nen radikal umgebaut werden. gegenwärtig stehen wir vor einer ruine. ohne es zu merken. das manifest der baukunst als eine verschleierungsmethode des wahren ist erst durch den ruinösen umbau perfekt geworden. einer der gründe des scheiterns: holleins protegé helmut zilk, der wiener bürgermeister, meister der verschleierungen, wünschte sich sehn­ lich einen repräsentativen neubau auf die postmo­ derne art. dies strebte hollein auch an, er übersah aber, dass es mit der postmoderne (zu deren erfindung er wesentlich beigetragen hatte) vorbei ist und er­ sann zu seinem initialtempel des neuen wiener luxuskonsums passend einen mächtigen eckturm. mit diesem historistischen appendix sollte im neuen stadtbild das neue an dem neuen haashaus besonders deutlich hervorgehoben werden. zugleich wollte hollein, gewünscht von vielen mit­ redenden vaterfiguren, den verloren gegangenen stock­im­eisen­platz wiedererstehen lassen. zumindest andeutungsweise. das problem mit dem turm war ein bautechni­ sches. dort, wo er in der form einer monumentalen erkerartigen auskragung zugefügt werden sollte, befinden sich die unterirdischen hohlen hallen der u­bahn­station, dort waren keine zusätzlichen bebauungslasten sinnvoll möglich. so hängt nun der extrem mühevoll als erker konstruierte turm als würde er am eck des hauses sitzen. ganz so wie die berühmte sitzende säule des andrea pozzo, über die der nationalsozialistisch gesinnte kunst­ historiker hans sedlmayr in seiner bestseller­ kampfschrift „verlust der mitte“ gegen die mo­ derne wetterte. um den ausgefallenen erkerturm errichten zu können, mussten die vertikallasten über ein kom­ pliziertes konsolenartiges tragwerk in die kons­ truktion und in die statik des hauptbaukörpers umgeleitet und dort kompliziert verteilt werden, wobei die beengte eckbauparzelle keine bebauung mit einem großen baukörper erlaubte. das tragwerk des sitzenden halbturms war offensichtlich statisch schwer zu bestimmen und seine konstruktion um­ ständlich, das dürfte dem architekturtheoretiker kapfinger auf­ und missfallen. von der beinahe piranesischen schönheit des turmtragwerks kommt leider kein deut auf die oberfläche der postmodernistischen verkleidung. rund dreihundert meter weit vom neuen haas­ haus entfernt, aber bereits von dort wegen der erker­ artigen auskragung gut sichtbar, am eck der roten­ turmstraße, am lichtweg und rotgasse, befindet sich ein haus, das einige konstruktive ähnlichkeiten mit dem turmerker des haashauses aufweist. unter der einst eindrucksvollen funktionalistischen fas­ sade verbirgt sich eine konstruktive pionierleistung: der erste geschweißte stahlbau in österreich. es ist das 1935/1936 von den architekten hein­ rich schmid und hermann aichinger entworfene wohn­, büro und geschäftshaus „zum römertor“. es handelt sich um den sogenannten assanierungsbau aus der austrofaschistischen zeit. das weit, sozusa­ gen bauordnungswidrig über die fluchtlinie heraus­ kragende haus, ist ein produkt des bemerkenswert intelligenten wertaustausches zwischen dem bau­ herrn und dem bauamt. der bauherr und eigentü­ mer des abbruchhauses aus der biedermeierzeit, die allgemeine baugesellschaft a. porr, tauschte einen teil des grundstücks für zwecke der straßenerweite­ rung am lichtweg für das recht, den baugrundver­ lust durch die bewilligung der überhang­bauweise auszugleichen. die ursprüngliche grundstückgrenze wurde gegenüber dem vorgängerbau etwa um 6 m zurückversetzt, sodass die verbleibende baufläche lediglich 190 quadratmeter betrug. diese in wien einzigartig pragmatisch gedachte lösung, eine be­ merkenswerte synthese eines verwaltungsakts und einer innovativen konstruktion, führte zum entste­ hen des einzigen erhaltenen, in allen aspekten des internationalen funktionalismus konzipierten bau­ werks in wien. die außerordentliche eleganz der un­ ter der fassade versteckten konstruktion ist aus eini­ gen wenigen fotografien des rohbaus ersichtlich. anmerkung: wirklich funktionalistische bau­ werke gab es in wien nur zwei. das villenartige gäs­ tehaus des auguste­olympe hériot im prater des bauhaus­architekten franz singer und der bauhaus­ künstlerin friedl dicker von 1934 wurde 1960 demo­ liert. das haus zum römertor wurde 2012 so aufge­ stockt und zum designerhotel umgebaut, dass die einstige einzige architektonische qualität ver­ schwunden ist und dass die beiden auch konstruk­ tiv talentierten architekten und wagner­schüler aichinger und schmid nun als zwei modernistische baubanausen erscheinen. der umbau des hauses zählt nun zu einem vorzüglichen anschauungsstück für jene in wien besonders beliebten stilgerechten anpassungen an die vorgefundenen bauoriginale, die man als postmoderne und postmorte rufschädigungen von architekten bezeichnen kann. geschichtlicher exkurs II: der stahlhochbau, ins­ besondere der skelettbau, hatte in den 1930er­jahren in europa einen bedeutenden aufschwung genommen. traktat über die vergeudung der wahrheit in der architektur

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Das neue Haashaus im Bau, aufgenommen 1988. es handelte sich um die für amerikanische wolken­ kratzer entwickelten konstruktionen, bautechnolo­ gien, haustechniken und baumaterialien, die dann auch für kleine bauten appliziert wurden. dies brachte eine vereinfachung in bauausführung, er­ sparnisse an baumaterial, höhere nutzflächenaus­ nützung und damit erhebliche wirtschaftliche vor­ teile bei einer beschleunigten fertigstellung des baues mit sich. die effizienz der stahlbauweise konnte durch einführung der elektrischen lichtbo­ genschweißung nochmals gesteigert werden. da es damals in österreich noch keine vorschriften zur ausführung geschweißter stahlskelette gab, muss­ ten die verbindungen der einzelnen profile durch nieten und schrauben hergestellt werden. in der baubewilligung vom 10. november 1934 war aus­ drücklich vermerkt, dass die verwendung ge­ schweißter stahlkonstruktionen sowie das bren­ nen von schraubenlöchern verboten sei. auf ansu­ chen der bauingenieure der firma porr um ände­ rung der technischen bedingungen für die konstruktion von stahlskeletten wurde der ge­ schweißte stahlbau per bescheid im frühjahr 1935, rechtzeitig zum baubeginn, erlaubt. persönlicher exkurs II: beim schreiben dieses traktats erreichte mich die merkwürdig erfreuerli­ che nachricht von den querkraft architekten. sie tei­ len mir hocherfreut mit, dass das von ihnen errich­ tete museum liaunig bereits vier jahre nach der fer­ tigstellung unter denkmalschutz gestellt wurde. bereits nach vier jahren! – erstaunlich, wie quick­ überlebendig die denkmalschützerInnen auch sein können. wenn sie wollen. wenn sie dürfen. die er­ freuliche nachricht veranlasst mich nun, von mei­ ner gemeinsamen begehung des funktionalisti­ schen wunderhauses in der rotenturmstraße mit den querkraft architekten vor drei jahren zu berich­ ten. ich erklärte ihnen, dass ich dieses gebäude für den wohl besten, weil modernsten bau der beiden bedeutenden, für ihre bemühungen und fähigkeiten, moderne gestaltung mit neuen bautechnologien zu verbinden, hoch geschätzten architekten halte. für den besten bau aus der austrofaschistischen zeit. meine, und nicht nur meine, bemühungen, die amtshandelnden denkmalschützer zu überzeugen, die besonderen qualitäten des gebäudes anzuerken­ nen und es als ein bedeutendes, weil ambivalentes bauzeugnis für die modernitätsanstrengungen des autoritären regimes unter schutz zu stellen, waren nicht erfolgreich. leider erfolgreich hingegen war ich bei den querkraft architekten. als sie vor der aufgabe standen, einen entwurf für den umbau des hauses „zum römertor“ auszuar­ beiten, baten sie mich, das haus zu besichtigen und ihnen die geschichte und bedeutung des bauwerkes zu erläutern. offensichtlich hatte ich zu vehement 290 22 | 23 traktat über die vergeudung der wahrheit in der architektur

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für die erhaltung des ursprünglichen zustands plä­ diert und zu deutlich über die schwierigkeiten, das hart an einigen gestaltungslimits errichtete haus zu einem bürohaus oder hotel umzugestalten, gespro­ chen. nach unserer begehung beschlossen die quer­ kraft architekten, sich um den umbauauftrag nicht zu bemühen. schade. sie hätten es sicher viel besser gemacht. wahrscheinlich radikaler. so wie es sich gehört: dass man erkennt, was von umbauarchitek­ ten ist und was von aichinger und schmid in diesem fall. das ist nach der nun erfolgten umgestaltung nicht mehr erkennbar. angeblich sei auch das neue haashaus von hans hollein kürzlich unter denkmalschutz gestellt wor­ den. warum, ist kaum nachvollziehbar. vielleicht doch wegen der besonders eindrucksvollen – wie­ wohl nicht sichtbaren und wohl längst vergessenen – tragwerkkonstruktion des ungemein gravitätisch wirkenden erkerturmes. dem namen le corbusier erschienen waren, in einem buch versammelt, das unter dem titel „vers une ar­ chitecture“ herausgegeben wurde. die hauptaussa­ ge der kämpferischen schrift war: „als vorbild für die kommende architektur muss die vorgangsweise des ingenieurs gelten, nicht die des baukünstlers.“ in „den mahnungen an die herren architekten“ in seinem vorwort zur neuausgabe von 1958 schrieb le corbusier zuversichtsvoll: „der baukörper. die inge­ nieure verwenden, da sie auf dem wege der berech­ nung vorgehen, geometrische formen und befriedi­ gen unsere augen durch die geometrie und unseren geist durch die mathematik. ihre werke sind auf dem wege zur großen kunst“. in österreich hält sich hartnäckig die österrei­ chische auffassung der moderne. die einer „mode­ raten moderne“, wie es der architekturkritiker wal­ ter zschokke vortrefflich ausgedrückt hat. es wäre ein erfreuerlicher fortschritt in der österreichischen denkmalschutz-weltanschauung, wenn ein bauwerk auch wegen konstruktion oder bautechnologie und nicht nur wegen einer fassade erhalten werden soll. die missach­ tung oder gar ver­ achtung der konst­ ruktiven und bau­ technologischen aspekte der archi­ tektur hat in öster­ reich lange tradition. die beachtung oder gar her­ vorhebung des konstruktiven, wie sie viollet­le­duc, ankmar adler und louis sullivan, viktor horta, toni garnier, hendrik petrus berlage, auguste perret, ri­ chard neutra, pier luigi nervi oder alison und peter smithson sowohl theoretisch als auch exemplarisch mit ihren bauwerken formulierten und formten, fand in österreich wenig zuneigung und selten prak­ tische aneignung. um le corbusier, den hauptakteur in dem anti­ podiumspiel bauingenieurwesen versus baukünst­ lerwesen, nicht zu übergehen. 1922 wurden zwölf artikel in der zeitschrift „esprit nouveau“, die unter einer moderne in der tradition von gottfried semper, otto wagner, adolf loos oder hans hollein. es ist die tradition der bekleidung, der verdeckung, der verschleierung des konstruktiven. die tradition hübscher missverständnisse. der missverstandene otto wagner. die österrei­ chische architekturhistorie feiert ihn als das genie einer synthese zwischen dem nutzwerk des ingeni­ eurs und der kunst des baukünstlers. der baukünst­ ler wagner verachtete das werk und das wirken der ingenieure. in seinen schriften verlangte er resolut, die „verheerende wirkung“ des ingenieurs zu been­ den. wagner, wie auch loos oder hollein, ging mit dem dekor als strategisches mittel zur verschleie­ rung der wahrheit in der architektur zugunsten der wahren baukunst lediglich fantasievoller vor als sei­ ne vorgänger in den zeiten des echten historismus. N Der ursprüngliche Zustand des Wohn-, Büro- und Geschäftsgebäudes „Zum Römertor“, aufgenommen Ende der 1930er-Jahre. traktat über die vergeudung der wahrheit in der architektur

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Der Planungsprozess | Die unsichtbare Steuerungskraft und ihr Wandlungspotenzial der Zukunft Im Vergleich zur Bauphase ist die Planungszeit für den Außenstehenden praktisch nicht sichtbar. Durch neue Planungsmethoden und -tools kann die Planungsphase aber auch dem weniger kundigen Bauherrn nähergebracht und daher für ihn transparenter werden. Arnold Tautschnig Univ.-Prof. für Projektplanung und Projektsteuerung an der Universität Innsbruck, geschäftsführender Gesellschafter der at bau-control GmbH, Innsbruck, Zivilingenieur für Bauwesen, gerichtlich zertifizierter SV für Hochbau, Ausschreibung und Vergabe und Honorarfragen, Auditor nach ÖGNI und Mitherausgeber der Zeitschrift „bau-aktuell“. Anja Hogge Universitätsassistentin am Arbeitsbereich Baubetrieb, Bauwirtschaft und Baumanagement (i3b) der Universität Innsbruck, Regionalgruppenverantwortliche Innsbruck der ÖGNI und stellvertretende Projektleiterin des Forschungsprojektes „Integration bauwirtschaftlicher Prozesse in ein Building Information Model“. 1. Auswirkung der Planung auf Kosten und Termine Ein Bauprojekt kann je nach Nutzungsart grundsätz­ lich in drei bis vier Phasen gegliedert werden. Diese sind die Entwicklung/die Planung, die Ausführung und die Betriebsphase. Die Phase, in der der Bauherr einen Fortschritt offensichtlich am besten erkennt, ist die der Ausführung, da dort das Gebäude Tag für Tag vor seinen Augen entsteht. Auch die Nutzungs­ phase kann der Bauherr dann gut einschätzen, wenn er das Gebäude selbst bewohnt oder vermarktet. Die Planungsphase hingegen bleibt für den Bauherrn ein unsichtbarer und daher schwer einschätzbarer Prozess. In der Regel sollen in dieser Phase seine Wünsche und Vorstellungen in einen Plan umgesetzt werden. Es liegt in der Natur der Thematik, dass ein Bauherr möglichst rasch sichtbare Fortschritte seines Pro­ jekts erkennen können will. Dass eine gewisse Pla­ nungszeit erforderlich ist, kann auch noch jeder nachvollziehen. Dass der Planungsprozess aber Monate, ja oft Jahre dauert, ist einem Nicht­Profi als Bauherrn aber nur schwer zu vermitteln. Dabei ist nicht immer „die Planung“ schuld an hohem Zeitaufwand: Vielfach sind es Nachbar­ schaftsprobleme, behördliche Genehmigungsver­ fahren, Verwertungsschwierigkeiten u. a. m., die den Prozess verzögern. Mit der Planung des Gebäudes selbst und mit des­ sen „Produkten“ – den Plänen – ist aber nur ein klei­ ner Teil des gesamten Planungsprozesses „sichtbar“. Insbesondere die Kosten sind jener Faktor, der erstens jeden Bauherrn interessiert und der Projekte immer wieder zum Scheitern bringt. Um aber Kosten seriös ermitteln zu können, muss eben der Planungsprozess ein be­ stimmtes Stadium – im Regelfall die Entwurfsphase – erreicht haben. Insofern bedingen die Planungs­ und Koordinationsprozesse einander (Abbildung 1). Man könnte den Planungsprozess auch als „an­ einandergereihte Kette von Entscheidungen“ be­ trachten. Insofern können im Planungsprozess ein­ zelne Schritte nicht einfach „sublimiert“, also über­ sprungen werden. Daher gab es über Jahrzehnte zu­ nächst Gebührenordnungen aufbauend auf Standard­Leistungsbildern, danach Honorarord­ nungen, schließlich Honorarleitlinien, bis es heute dank der EU­Sorge vor organisierten Absprachen Die begleitenden Prozesse für Kosten, Termine, Qualität und Quantität sowie deren Dokumentation laufen nämlich zumeist im Hintergrund ab. 1 §3 Z2 HOA 2004 aufgehoben mit VO 190/2006 2 Colutto, F.: Entscheidungsstrategien in integralen, lebenszyklusorientierten Planungsprozessen im Hochbau, DA Univ. Innsbruck, 2012, Betreuer: Univ.-Prof. Dr. A. Tautschnig, S. 17 und unerlaubten Kartellbildungen nichts mehr der­ gleichen gibt. Zwar versuchen die Interessenvertre­ tungen eine Art von Kalkulations­Hilfestellung für ihre Mitglieder bereitzustellen, im Falle der HIA – Honorarinformation für Architekten – haben diese Unterlagen – bis auf Ausnahmen – bisher aber nur wenige Anhänger gefunden. Kein Bauherr ist bereit, sich sein Planungsleistungsbild selbst aus Modulen „zusammenzubasteln“. Er möchte eine vollständige Planungsleistung im Sinne von „Regelleistungsbil­ dern“ einkaufen, solche fehlen aber bisher. Zusätz­ liche oder Sonderleistungen werden im Regelfall vom Bauherrn ins Grundhonorar „hineingedrückt“ und führen selten zu zusätzlicher Honorierung. Nun kann man aber Planungsleistungen als geistige Leistung schon per definitionem nicht um­ fassend beschreiben. Darauf hat auch das BVergG entsprechend reagiert, indem geistige Leistungen, wenn sie „ihrer Natur nach … eine globale Preisge­ staltung nicht zulassen“, im Wege des Verhand­ lungsverfahrens vergeben werden können (§30 Abs 1 Z 2 BVergG). Dabei kann über den gesamten Leis­ tungsumfang – also auch über die Leistungsinhalte – verhandelt werden. Eine der negativen Auswirkun­ gen dieser an sich positiven Vergabepraxis kann aber auch dahin gehen, dass genau die oben abge­ lehnte Sublimierung versucht wird: dass nämlich Planer oder auch Bauherren versuchen, Teilleistun­ gen zu überspringen. Wie vor einiger Zeit bei einem Wohnbauprojekt der Luxusklasse passiert, wird zwischen Bauherrn und Planer zuerst monatelang über Raumaufteilun­ gen, Fassadengestaltung u. Ä. diskutiert und plötz­ lich liegt eine Einreichplanung am Tisch, die in kei­ ner Weise die ehemals in der HOA formulierten Ent­ wurfsanforderungen erfüllt. Nämlich die zeichneri­ sche Darstellung des Gesamtentwurfes in solcher Durcharbeitung, dass dieser ohne grundsätzliche Änderung als Grundlage für die weiteren Teilleis­ tungen dienen kann …1 Denn der Architekt war der Meinung, dass er für die Einreichung keinen Stati­ ker benötigt, weshalb er sich auch mit der Thematik der Baugrubensicherung nicht weiter auseinander­ gesetzt hat. Dass allerdings die aufgrund seiner Planung notwendige Baugrubensicherung infolge der örtlichen Gegebenheiten ca. 25 % der von ihm (ohne Sicherungsmaßnahmen) geschätzten Kosten umfasst hätte, wurde erst im Zuge der zu über­ arbeitenden Einreichplanung klar und hat neben dem Wechsel des Architekten beinahe zum kom­ pletten Abbruch des Projektes geführt. Selbst für erfahrene Architekten und Ingenieure wird es aber immer schwieriger, die Fülle an Einflüssen bzw. deren Auswirkungen auf ein Projekt in ihrer Gesamtheit abzuschätzen.2 290 24 | 25 Der Planungsprozess

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1.) Grad der Beeinflussbarkeit der Kosten über die Dauer des Lebenszyklus 3 Kosten über Lebenszyklus/ Grad der Beeinflussbarkeit sche bzw. visuelle Unterstützung ganz anders in den Planungsprozess einbezo­ gen werden als bisher. Neben der Mög­ lichkeit für Planer, zeitgleich gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten, können dem Bauherrn neben einem „räumlichen Durchwandern“ seines Projekts unmit­ telbare Konsequenzanalysen seiner Wünsche hinsichtlich Kosten und Ter­ minen geboten werden. 2. Revolution BIM – eine neue Art zu planen Building Information Modeling (BIM) als neue Arbeitsweise im Planungs­ prozess macht somit auch vor Öster­ reich nicht halt. Dies erkennt man am vermehrten Aufrüsten der Planungs­ büros mit BIM­Software und an den PE PI Ausf Lebenszyklus (t) Normungsbestrebungen in und außer­ halb Österreichs.4 Digitale Gebäudemodelle können Projektdauer Nutzungsdauer bei entsprechender Datenstruktur die umfassende Information über den ge­ samten Lebenszyklus und im Idealfall alle relevanten Informationen aller Pla­ Grad der Beeinflussbarkeit Verlauf der Kosten nungsbeteiligten beinhalten und diese in einer Datenbank verwalten. So kön­ nen aus BIM­Modellen neben jedem 3 Vgl. Grafik Richtlinie Dies umso mehr, als langsam auch die lebens­ beliebigen Planset bei entsprechender Datenauf­ GEFMA 220-1,09–20, zyklusorientierte Planung Einzug in den Planungs­ bereitung automatisch Tür­ und Fensterlisten, aber Lebenszykluskostenauch Leistungsverzeichnisse und Terminpläne ge­ prozess hält. Es ist aber völlig ausgeschlossen, dass Ermittlung im FM, Einein Planer allein den Überblick über alle Lebens­ neriert werden. Dies hängt allerdings immer auch führung und Grundlagen 4 zyklusaspekte seiner Planung haben kann. Insofern von der Systematisierung der Schnittstelle und von Both, Petra, et al. BIM – Potenziale, Hemmist der integrale Planungsprozess – also das früh­ von der Kompatibilität anderer, für Sonderanwen­ nisse und Handlungsplan. zeitige Einbinden aller Planungspartner in die Pla­ dungen erforderlicher Programme zum BIM­Pro­ Building Lifecycle nung bereits zu Beginn – das Gebot der Stunde, grammsystem ab.5 Management, Karlsruher Institut für Technologien. um die Wahl eines geeigneten Lösungsvorschlages Die „BIM­Arbeitsweise“ bringt aber die nicht Karlsruhe : s. n., 2012. zur Zufriedenheit aller Beteiligten zu ermöglichen. unwesentliche Veränderung mit sich, dass der Bau­ Forschungsprojekt Eine vollständige Parallelität der Planungsabläufe herr viele Entscheidungen in einem früheren Stadi­ 5 BIM – Eine Revolution ist dadurch zwar trotzdem nicht möglich, weil um des Projekts treffen muss. der Planung. Tautschnig, A., Hogge, A. und GasteiPlanen auch einen sozialen Prozess der Entschei­ ger, A.; bau aktuell, Heft dungsfindung darstellt, aber ein Mittelweg zwi­ Denn das digitale Modell verlangt nach Antwor2/2013, S. 42 [Hrsg.] Heck/ schen serieller und vollständig paralleler Planung ten, über die sich der Planer nicht „hinwegKarasek/Tautschnig 6 ist dadurch allemal möglich. HIA 2010 – Honorarinforschwindeln“ kann. Schon bei einem standardmäßigen Büroge­ mation für Architektur 7 Honorarleitlinie für bäude mit einer technischen Lebensdauer von (nur) Außerdem soll sofort richtig modelliert werden, um Architekten (HOA 2004 – 30 Jahren betreffen nur ca. 30 % der Lebenszyklus­ späteren Mehraufwand zu vermeiden. Abbildung 2 Abschnitt A), aufgehoben zeigt den unterschiedlichen Verlauf des Planungs­ kosten (LZK) die Errichtungskosten, wohingegen mit VO/165-2006 8 die Folgekosten, somit die Objektnutzungskosten, Ausschnitt aus: BIM – aufwandes „Architektur“ zwischen herkömmlicher Eine Revolution der ca. 70 % der LZK ausmachen. Der bekannte Zusam­ Planung und einer Planung mit BIM, dargestellt in Planung. Tautschnig, Prozent der gesamten Planungsleistung und unter­ menhang in Abbildung 1 verdeutlicht die Situation Arnold, Hogge, Anja und entsprechend. schieden nach den Planungsphasen der HIA.6 Da es Gasteiger, Anton. [Hrsg.] Detlef Heck, Georg Um die Komplexität der Planungsaufgabe ent­ noch keine abgesicherten Werte aus der Literatur Karasek und Arnold gibt und kein Projekt einmal „mit BIM“ und einmal sprechend zu unterstützen, haben sich auch die Tautschnig. Nr. 2, s. l.: „ohne BIM“ geplant wird, wurden Erfahrungswerte Planungstools weiterentwickelt. Ist CAD seit Jahren Linde, 2013, bau aktuell, der Autoren in Relation zu den Ansätzen der HOA7 als Zeichnungsunterstützung Standard, arbeitet Kapitel: BIM und Integrale Planung man derzeit an der Professionalisierung von digi­ hinterlegt, wonach sich ca. 20 % des Aufwandes talen Gebäudemodellen (BIM – Building Informa­ für Kostenermittlungsgrundlagen und Ausfüh­ tion Modeling). rungsplanung in die Phasen Vorentwurf bzw. Diese neue Art des Planens macht den Planungs­ Entwurf verschieben, siehe Abbildung 2.8 prozess einerseits transparenter, andererseits kann auch der nicht­professionelle Bauherr durch grafi­ Der Planungsprozess

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2.) Gegenüberstellung des Planungsaufwandes mit und ohne BIM Änderungswesen wird nicht nur in einer oder zwei sondern in bis zu sechs Dimen­ sionen parallel mitgeführt.10 3. Resümee Bis diese neue Art der Planung sich flä­ chendeckend durchgesetzt haben wird, wird noch einige Zeit vergehen, aber: „Die Zukunft hat bereits begonnen.“ Der Planungsprozess wird nicht neu erfunden, aber er wird in eine effiziente­ re und transparentere Richtung gelenkt. Die Prozessschritte werden nicht über­ sprungen oder sublimiert, da der Prozess der gemeinsamen Erarbeitung von Lö­ sungen zwischen Bauherrn und Planer auch ein sozialer Prozess ist. Aber dieser soziale Prozess kann unter sehr inten­ siver und medial unterstützter Einbin­ dung auch des nicht­Profi­Bauherrn er­ folgen, wodurch das Vertrauen zwischen den Projektpartnern als einer der we­ sentlichsten Erfolgsfaktoren sozialer Abläufe wieder mehr an Bedeutung ge­ winnen kann. Trotz integraler Planung kann nicht alles vollkommen gleich­ zeitig geschehen, sondern das „stirb und werde“ muss für Lösungsfindungen nach wie vor gelten. Ein digitales Modell bietet jedoch die Möglichkeit, den Prozess vollständi­ ger, transparenter und wohl auch prä­ ziser ablaufen zu lassen als auf dem bis­ herigen, herkömmlichen Weg. Denn vie­ le Fragen können der Planer oder auch der Bauherr erstens früher stellen, als das heute geschieht, und sie können auch früher, durchaus auch mit Annah men, aber eben doch früher, beantwortet werden. Die Elemente einer gleichsam „unsichtbaren Steuerungskraft“ können so zu ihrer Geltung kommen. N 40 % 35 % 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % Ei Ko nr ei st ch en un er m g itt lu ng sg ru nd la ge Au n sf üh ru ng sp la nu ng Vo re nt w ur f En tw ur f Teilleistungen lt. HOA 2004 für die Planung konventionell inkl. Oberleitung Teilleistungen unter Einsatz eines BIM-Modells ohne Oberleitung Durch diese Verschiebung der Leistungen kommt den frühen Planungsphasen (Vorentwurf, Entwurf) eine noch prioritärere Rolle zu, da sie an Steuerungskraft gewinnen. 9 Z.B. LGBl. Nr. 39/2007, Tirol 10 BIM – Eine Revolution der Planung. Tautschnig, A., Hogge, A. und Gasteiger, A.; bau aktuell, Heft 2/2013, S. 43 [Hrsg.] Heck/Karasek/ Tautschnig Man könnte ironi­ scherweise mit C. Achammer aber auch formulieren: Erst durch diese neue Arbeitsweise wird dem Planer das abgefordert, was er spätestens im Entwurf immer schon hätte leisten müssen … Projekte müssen also in erheblich früheren Projektphasen einen wesentlich schärferen Detail­ lierungsgrad aufweisen, als wir es im Zeitalter der differenzierten, klar abgrenzbaren und durch Honorarordnungen sogar „normierten“ Planungs­ phasen gewohnt waren. Diese Grenzen verschwim­ men zugegebenermaßen durch digitale Modelle immer mehr. Beginn und Ende von Planungspha­ sen sind gekennzeichnet als Momentaufnahmen des digitalen Modells, allenfalls noch normiert durch Planzeichenverordnungen9 oder eben durch den o. a. Anspruch, „… ohne grundsätzliche Ände­ rungen geeignet für die nächsten Teilleistungen …“ zu sein. Durch zunehmende Modellschärfe im Laufe des Planungsprozesses gewinnt man neben­ bei nahezu kostenlos und ohne größeren Mehrauf­ wand eine fortlaufende, zumindest dreidimensio­ nale Konsistenzprüfung (z. B. Höhen­, Kollisions­ und Schnittstellenkontrollen u. a. m.) und das 290 26 | 27 Der Planungsprozess

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Einführung in den Hertzianismus | Das Zeitalter der Antenne Stephan Trüby ist freier Architekt, Theoretiker, Kurator sowie Leiter des Postgraduierten-Studiengangs Spatial Design der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). 1 Walter Gropius: „Der Neue Baugedanke“ (1919), in: Ulrich Conrads: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1981, S. 43. 2 Vgl. Adam Greenfield: Everyware: The Dawning Age of Ubiquitous Computing, Indianapolis: New Riders, 2006. 3 Vgl. Peter Fischer: Philosophie der Technik, München: Fink, S. 11. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Mario Carpo: Architecture in the Age of Printing: Orality, Writing, Typography, and Printed Images in the History of Architectural Theory, Cambridge/Mass, The MIT Press, 2001. 7 Vgl. James S. Ackerman: „Style“, in (ders.): Distance Points, Cambridge/Mass., 1991, S. 3–22. 8 Vgl. Carpo, Architecture in the Age of Printing, a. a. O. 9 Hartwig Neumann: Festungsbaukunst und Festungsbautechnik. Deutsche Wehrbauarchitektur vom XV. bis XX. Jahrhundert, Koblenz 1988, S. 142. 10 Heiner Mühlemann prägte in „Die Natur der Kulturen – Entwurf einer kulturgenetischen Theorie“ (Wien/New York: Springer, 1996) den Begriff des Diskriminierungspotenzials, um das Konfliktpotenzial technischen Vorsprungs zu charakterisieren. 11 Reyner Banham (1960): Die Revolution der Architektur: Theorie und Gestaltung im Ersten Maschinenzeitalter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1964. Bis ins 20. Jahrhundert hinein galt, dass Bauen Technik und Architektur mehr als Technik sei, nämlich Kunst. Erst die Manifeste der klassischen Architekturmoderne bereiteten diesem Anspruchs­ denken ein Ende. „Diese grauen, hohlen, geistlosen Attrappen, in denen wir leben und arbeiten“, schreibt etwa Walter Gropius im Jahre 1919, „werden vor der Nachwelt beschämendes Zeugnis für den geistigen Höllensturz unseres Geschlechts ablegen, das die große einzige Kunst vergaß: Bauen.“1 Fortan herrsch­ te eine Ranking­Inversion in der Architektur: Als ihr wichtigstes Eichmaß galt nicht mehr die „hohe“ Kunst, sondern die „niedere“ Technik. Architectura militaris und architectura civilis Doch wie verhält sich die um 1900 zur bauenden Technik umgedeutete Architektur zu jenen Tech­ nologien, die in den zentralen Kriegen des 20. Jahr­ hunderts retrospektiv als kriegsentscheidend ein­ gestuft werden dürfen: die Technologien zur Be­ herrschung des elektromagnetischen Spektrums? des Bogens bzw. des Gewölbes und die mittelalter­ liche Architektur vor allem die Technik des Stein­ schnitts.6 Zwar wird gegen ein solches Geschichts­ modell zuweilen kritisch eingewandt, dass die Re­ naissancearchitektur nur mit untergeordneten bau­ technischen Innovationen einherging – sie könne also durch eine solche technikzentrierte Theorie nicht adäquat beschrieben werden.7 Doch dabei wird vergessen, dass die Renaissancearchitektur ohne den Gelehrsamkeitsschub innerhalb der „Gutenberg­Galaxis“ (Marshall McLuhan) kaum zu denken ist – und sich vor allem den Techniken des Druckens verdankt.8 Aus diesem kurzen und schematischen Abriss ist zu schließen: Nicht nur Bautechniken, sondern auch Kommunikationstechniken hinterlassen Spuren in der Architektur – offensichtliche und weniger offensichtliche. Mit der Moderne setzt ein Distanzierungspro­ zess ein, im Zuge dessen die fortschrittlichsten technologischen Entwicklungen – etwa ballistische Innovationen – immer seltener in Architekturdis­ kurse eingebettet wurden. Entscheidend für diesen Prozess war die schleichende Entkopplung der Mili­ tär­ von der Zivilarchitektur: Bereits im Laufe des 16. Jahrhunderts war das Festungsbauwesen zu ei­ nem Sonderfach geworden, und seit dem frühen 17. Jahrhundert lassen sich Unterschiede feststellen zwischen dem Ingenieur, der für die architectura militaris zuständig ist, und dem Architekten, der sich ganz der architectura civilis widmet.9 Der Mili­ tärarchitekt stand dabei im Dienst des Staates und trug seinen Teil zur Grenzsicherung bei, der Zivilar­ chitekt dagegen arbeitete im Inneren eines kulturel­ len Schutzraumes und konnte – den erfolgreichen Militärarchitekten im Rücken – sich Kriegsamnesie leisten. Noch bis Anfang des 18. Jahrhunderts wur­ den zwar „beide Architekturen“ üblicherweise von einem Baumeister und Ingenieur in Personalunion verantwortet, aber am Ende dieses Säkulums stand die Teilung vormoderner Kriegskulturen: Krieg und Kultur gingen von nun an getrennte Wege; avancier­ te Technik und Architektur ebenso. Erstes und Zweites Maschinenzeitalter Wenn Technik vor allem aufgrund ihres Diskrimi­ nierungspotenzials10 evolviert, dann stellt sich die Frage nach ihrer Rolle für die Architektur, die sich spätestens seit der Aufklärung in Opposition zur architectura militaris begreift. Reyner Banham war es, der die erste gründliche Untersuchung über das Verhältnis moderner Archi­ tektur zur technischen Entwicklung ihrer Zeit vor­ legte.11 Seine Einschätzung des Technikinteresses jener modernen Architekten, die sich während des Wie veränderte sich die Architektur durch die Entdeckung der Radiowellen, der Radarwellen, der Radioaktivität etc.? Diese Fragen implizieren nicht nur jene nach dem allgemeinen Verhältnis von Architektur und Tech­ nik, sondern auch jene nach der Zukunft des Bauens im derzeit sich ankündigenden Zeitalter einer „Rechner­Allgegenwart“, welches mit Begriffen wie „Ambient Intelligence“ oder „ubiquitous compu­ ting“ verhandelt wird – und durchweg elektromag­ netisch gestützt ist.2 Die Beziehung der Architektur zur allgemeinen technischen Entwicklung kann als ein zunehmen­ der Distanzierungsprozess begriffen werden. Dass Bautechnik einst als Technik per se galt, lassen bereits die frühesten Spuren des Technik­ Begriffs erahnen, die im fruchtbaren Halbmond und in der Zeit des Übergangs zur Sesshaftigkeit liegen.3 Auch das griechische Wort techné stand anfänglich für Zimmermannstechniken, für das Verbinden von Holz und das Flechten von Bast.4 Später wurde techné zum Sammelbegriff für die allgemeine Kunstfertigkeit in handwerklichen und schönen Künsten.5 Über weite historische Distanzen kann die Architekturentwicklung anhand der Entwicklung von Techniken beschrieben werden, wie ein positivistisches Schema der Baugeschichtsschreibung zeigt: Danach ist die Architektur des antiken Griechen­ land vor allem die Technik von Pfeiler und Sturz, die römische Architektur vor allem die Technik Einführung in den Hertzianismus

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12 Fuller, zit. nach Banham, Die Revolution der Architektur, a. a. O., S. 274. 13 Banham, Die Revolution der Architektur, a. a. O., S. 279. 14 Martin Pawley (1990): Theorie und Gestaltung im Zweiten Maschinenzeitalter, Bauwelt Fundamente 196, Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1998, S. 193. 15 Vgl. Pawley, Theorie und Gestaltung im Zweiten Maschinenzeitalter, a. a. O., S. 15. 16 Pawley, Theorie und Gestaltung im Zweiten Maschinenzeitalter, a. a. O., S. 169. 17 Pawley, Theorie und Gestaltung im Zweiten Maschinenzeitalter, a. a. O., S. 170. 18 Vgl. Christoph Rosol: RFID – Vom Ursprung einer (all)gegenwärtigen Kulturtechnologie, Berlin: Kadmos, 2007. 19 Vgl. etwa Christian Kühn: „Towards an Architecture of Change: From Open Plan to Open Planning“, in: Michael Shamiyeh und DOM Research Laboratory (Hrsg.): Organizing for Change: Integrating Archietctural Thinking in Other Fields, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser, 2007, S. 108. 20 Stewart Brand, zit. nach Christian Kühn: „Towards an Architecture of Change: From Open Plan to Open Planning“, in: Michael Shamiyeh und DOM Research Laboratory (Hrsg.): Organizing for Change: Integrating Archietctural Thinking in Other Fields, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser, 2007, S. 108. „Ersten Maschinenzeitalters“ von großen Maschi­ nen wie Schiffen, Flugzeugen oder Autos inspirieren ließen, ist ernüchternd: „Der Internationale Bau­ hausstil kümmerte sich nicht um die unter der Maueroberfläche liegende Installation […], er unter­ suchte niemals das Problem der sanitären Anlagen als Ganzes […]; kurzum, er kümmerte sich nur um Probleme, die Veränderungen an der Oberfläche betrafen, und diese Endprodukte waren von Natur aus untergeordnete Funktionen einer in technischer Hinsicht veralteten Welt.“12 Architektur und Technik waren für Banham kaum vereinbare Disziplinen: „Der Architekt, der beabsichtigt, mit der Technolo­ gie zu gehen, weiß, dass er sich in einer rasch voran­ schreitenden Bewegung befindet und dass er, um mit ihr Schritt zu halten, es möglicherweise den Futuristen gleichtun und seinen ganzen Kulturbal­ last abwerfen muss, einschließlich jener Berufsklei­ dung, die ihn als Architekten kenntlich macht.“13 Martin Pawley, der mit seinen Untersuchungen zur Architektur im „Zweiten Maschinenzeitalter“ an Banham anschließt, schlägt in dieselbe Kerbe: „Aus unterschiedlichsten Gründen versuchte die moderne Architektur, die Forderungen nach einer technologischen Assimilation an das Zeitalter der Wissenschaft zu ignorieren. Vergleichbar mit Chir­ urgen, die ohne Narkose in einem modernen Lehr­ krankenhaus arbeiten, blieben sie bedrohlich hin­ ter der Entwicklung in ihrem eigenen Umfeld zu­ rück.“14 Pawley, für den der entscheidende Schritt vom Ersten zum Zweiten Maschinenzeitalter in der Miniaturisierung der Apparate und in der Verbrei­ tung elektrischer Hauhaltsgeräte besteht,15 sieht in der Architektur nur „Stoßdämpfer gegen Verän­ derungen“.16 Gerade in der sogenannten „Hightech­ Architektur“, die ihre Hochzeit während der Druck­ legung von Pawleys Traktat hatte, erblickt er kaum mehr als einen archaischen Cargo­Kult, wenn er mit Blick auf die rhetorischen, weil viel zu großen Antennen von Richard Hordens Entwurf für ein Londoner Bürogebäude (Stag Place) schreibt: „Weder das Gewicht von Antennen […] noch das ge­ samte Gewicht der klimatechnischen Einrichtun­ gen beeinflussen den Entwurf neuer Gebäude mit ihren formalen Anforderungen nachweislich in dem Maße, wie dies beim riesigen gotischen Fenster für den mittelalterlichen Baumeister der Fall war.“17 Drittes Maschinenzeitalter Derzeit befinden wir uns in einem Dritten, einem via elektromagnetischem Spektrum operierenden Ma­ schinenzeitalter, für das sich der Begriff „Hertzianis­ mus“ anbietet. Eine wachsende elektromagnetische Sensibilität lässt sich bei RFID­gestützten Zugangs­ kontrollen,18 im Bereich des Facility Management (also in der Kommunikation zwischen einer zuneh­ mend intelligenten Architektur und einer professio­ nellen Gebäudebewirtschaftung) sowie in der alltäg­ lichen Gebäude­Nutzer­Interaktion ausmachen. Verstärkt werden die hertzianischen Tendenzen der Gegenwartsarchitektur durch Entwicklungen in der Ambient­Intelligence­Forschung. Zwar sind der­ zeit marktreife Anwendungen noch Mangelware, doch in der Verkehrstechnologie und der Textilfor­ schung zeichnen sich bereits Entwicklungen ab, die früher oder später auch in die Architektur Eingang finden. So gelten intelligente Teppiche mit eingewo­ benen Bewegungs­ und Feuermeldern oder Wand­ behänge, die durch Leuchtdioden zu Wegweisern werden, nur als eine Frage der Zeit.“ Jenseits der Hintergrunds „Gebäude sind kaum mehr als Hintergrund für die technischen Innovationen!“ So oder so ähnlich wer­ den oftmals die diskursiven Verbindungen von Ar­ chitektur zum elektromagnetischen Spektrum dis­ kutiert – man denke etwa an zahllose Würdigungen des legendären Building 20 auf dem MIT­Campus,19 einem Laborprovisorium, das, an einem Nachmit­ tag entworfen, hastig während des Zweiten Welt­ kriegs errichtet und zur Heimstatt des berühmten Radiation Laboratory („RadLab“) wurde. Auf das Konto dieser Forschungseinrichtung gehen einige der wichtigsten wissenschaftlichen Durchbrüche im Bereich der Elektronik, der Mikrowellenphysik und der Erforschung des Elektromagnetismus. Ste­ wart Brand führt den Erfolg dieses Gebäudes auf die Adaptierbarkeit eines architektonischen Neutrums durch ihre Nutzer zurück: „If you don’t like a wall, you just put your elbow through it. […] The users see themselves as the creators of the buildings: If you make a hole into the floor to get more vertical space, you just do it without asking […].“20 Anders als bei der Nicht­Architektur des Buil­ ding 20 ist bei hertzianischen Architekturen eine strahlendimmaterielle Nicht­Architektur Teil der architektonischen Konzeption. Die hertzianischen Architekturen des Dritten Maschinenzeitalters sind pervasiv: Sie bestehen aus großen und kleinen Gad­ gets (Bauteilen und PDAs), die alle durch das elekt­ romagnetische Spektrum zusammengehalten wer­ den. Die noch ausstehende evolutionstheoretische Beschreibung hertzianischer Architekturen sei im Folgenden anhand ihrer beiden größten Extreme skizziert: Antennen (strahlend) und Bunker (strah­ lenfrei). Beide Extreme – so wird zu zeigen sein – sind nur deshalb möglich geworden, weil es Hein­ rich Hertz Ende des 19. Jahrhunderts verstanden hatte, den Raum als elektromagnetisches Feld be­ obachtbar zu machen. Antennen Das elektromagnetische Spektrum ist am sichtbars­ ten mit der Antenne in die Architektur getreten. Die Geschichte der Antenne kommt kaum ohne die Erwähnung der Forscher Nikola Tesla und Guglielmo Marconi aus, die beide auf der Grundlage der Hertz­ schen Experimente arbeiteten. Der gebürtige Serbe Tesla begann im Jahre 1893 seine Experimente mit verschiedenen Hochfrequenzoszillatoren und konn­ te bereits Ende 1896 mit einer Sendestation in New York, einer 30 Kilometer entfernten Empfangsstation 290 28 | 29 Einführung in den Hertzianismus

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und einer langwelligen Resonanzfrequenz gute Fernübertragungsergebnisse erzielen. Teslas Wissen machte sich der Italiener Guglielmo Marconi zunut­ ze, der 1897 Signale über den Bristolkanal sandte. Bei seinen Versuchen verwendete er einen Draht an einer hölzernen Zeltstange – „Antenne“ leitet sich aus dem italienischen Namen für Zeltstange ab, l’antenna centrale. 21 Vgl. Wolfgang Hagen: Das Radio: Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München: Wilhelm Fink, 2005, S. 167. 22 Tesla, 1904, zit. nach Dieter Daniels: Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München: Beck, 2002, S. 100–101. 23 Vgl. Margaret Cheney: Nikola Tesla. Erfinder, Magier, Prophet (1981), Aachen: Omega, 1995, S. 197. 24 Cheney, Nikola Tesla, a. a. O., S. 204. 25 Cheney, Nikola Tesla, a. a. O., S. 235. 26 Vgl. Monika Dommann: Durchsicht, Einsicht, Vorsicht: Eine Geschichte der Röntgenstrahlen 1896–1963, Zürich: Chronos, 2003, S. 341. Eine der frü­ hesten – und nach wie vor geheimnis­ vollen – Antennen­ architekturen stellt der unvollendet gebliebene Wardenclyffe Tower dar, eine Art Weltsendeturm, den Nikola Tesla 1898 plante und ab 1901 gemeinsam mit dem Architekten Stanford White bei Shoreham auf Long Island errichten ließ. Der Wardenclyffe Tower sollte gleichermaßen extraterrestrische Kommunikation ermöglichen, Flugzeuge und Schiffe fernsteuern, aber auch Todesstrahlen zur Landesverteidigung aussenden.21 Es war beabsichtigt, den Turm in ein erdumspannendes Netzwerk von „Welttelegrafie“­ Stationen einzubinden. In jedem wichtigen urba­ nen Zentrum sollte eine Station platziert werden, um Nachrichten blitzschnell an jeden anderen Punkt der Erde zu übermitteln. Als Empfängergerät stellte sich Tesla – rund hundert Jahre vor Einfüh­ rung von Handys – ein preiswertes Gerät vor, „das man in der Tasche trägt, […] um die Weltnachrich­ ten aufzuzeichnen oder spezielle an es gerichtete Botschaften zu empfangen. So wird die ganze Erde in ein großes Gehirn verwandelt, in jedem seiner Teile fähig zu einer Reaktion.“22 Zweitausend Men­ schen sollten einmal in dem Turm arbeiten, wäh­ rend ihre Familien in der umgebenden Erschlie­ ßung wohnten – geplant war nichts weniger als ei­ ner der ersten Industrieparks der Welt.23 Teslas ambitioniertes Projekt wurde jedoch schon bald nach Baubeginn von massiven Pro­ blemen heimgesucht, vor allem finanziellen. Ein Hauptgrund war, dass Tesla seinen Geldgeber, den Stromunternehmer J. P. Morgan, nicht über die wahren technischen Möglichkeiten seines Turms informiert hatte. Denn dem Erfinder ging es nicht allein um die Ausstrahlung von Radiosignalen, wie er Morgan glauben machte, sondern insbesondere um drahtlose Energieübertragung.24 Daran konnte Morgan kein finanzielles Interesse haben, denn soll­ te diese sich durchsetzen, müsste der Unternehmer all seine Stromversorgungsleitungen aus dem Ver­ kehr ziehen.25 Als er von Teslas Plan Wind bekam, drehte Morgan den Geldhahn zu. Am 4. 7. 1917 wur­ de der Turm gesprengt, da man befürchtete, er könnte eine Markierung für angreifende deutsche U­Boote sein. Strahlenschutzbunker Den zweiten architektonischen Extrempol im Zeitalter des beherrschten elektromagnetischen Spektrums markiert der Bunker, genauer: der Strahlenschutzbunker. Dessen Evolution begann Anfang des 20. Jahrhun­ derts mit der Entdeckung der Gefahr, die in den Röntgenstrahlen steckt.26 Doch nicht diese führten zu einer weiten Ver­ breitung von Strahlenschutzräumen, sondern – in der Folge von Hiroshima – die radioaktive Strahlung. Der Ort, an dem die ersten systematischen Schutz­ maßnahmen gegen deren Gefahr entwickelt wurden, ist die US­amerikanische Wüste, und zwar das Nikola Teslas Wardenclyffe Tower, Long Island, USA, errichtet 1901, steht prototypisch für den Beginn des Zeitalters der Antenne. Einführung in den Hertzianismus

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Das Modellhaus, ca. 1,7 km von Ground Zero des Kernwaffentests „Operation Doorstep“ entfernt. 27 Tom Vanderbilt: Survival City: Adventures among the Ruins of Atomic America, New York: Princeton Architectural Press, 2002, S. 89. 28 Vgl. Vanderbilt, Survival City, a. a. O., S. 89. 29 Vgl. Vanderbilt, Survival City, a. a. O., S. 97. 30 Vgl. ebd. 31 Vanderbilt, Survival City, a. a. O., S. 100. 32 Wolfgang Hagen: Das Radio: Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München: Wilhelm Fink, 2005, S. 27. 33 Hagen, Das Radio, a. a. O., S. 15. 34 Vgl. Ansgar Häfner: „Vorwort“, in (ders., Hrsg.): Heinrich Hertz – Eine Funkgeschichte, Ausstellungskatalog, Frankfurt am Main: Deutsches Postmuseum, 1991, S. 7. 35 Hagen, Das Radio, a. a. O., S. 49. 36 Hagen, Das Radio, a. a. O., S. 31. Stephan Trübys Text „Einführung in den Hertzianismus“ erschien 2009 in der von ihm editierten Textsammlung „Hertzianismus“ anlässlich des gleichnamigen Symposiums an der HfG Karlsruhe. Nevada­Testgelände, ein 3500 Quadratkilometer großes Sperrgebiet nördlich von Las Vegas. Dort führte die US­Regierung zwischen 1951 und 1958 119 oberirdische Kernwaffentests sowie von 1962 bis zum Teststopp­Memorandum 1992 über 1000 unterirdische Atombombentests durch. Um die Auswirkungen von Atombombenexplo­ sionen auf die Architektur zu erforschen, wurde An­ fang der Fünfzigerjahre auf dem Nevada­Testgelän­ de die sogenannte „Doom City“ errichtet. Doom City war keine Stadt, sondern bestand nur aus zwei zweigeschoßigen Mittelflur­Holzhäusern im kon­ ventionellen Kolonialstil, die in Zusammenarbeit mit der American Association of Architects errichtet wurden.27 Eine halbe bzw. eine ganze Meile entfernt von den beiden Häusern wurde im Zuge der „Opera­ tion Doorstep“ (1953) eine 15 Kilotonnen schwere Atombombe gezündet: Ground Zero. Ein Haus wur­ de komplett dem Erdboden gleichgemacht, das an­ dere blieb halbwegs stehen, allerdings mit zerstör­ ten Fenstern und derangierten Crashtest­Dum­ mies.28 Die Strahlen­Kompetenzen, die durch Operati­ on Doorstep und andere Tests gesammelt wurden, wurden Grundlage des wohl ambitioniertesten zivi­ len Atomschutzbunker­Programms der Geschichte: des Fall­out­shelter­Programms der Kennedy­Admi­ nistration. Man wusste: Nur jenes Land, das den nächsten Krieg möglichst lange überleben würde, würde ihn auch gewinnen. Und die Architekten sa­ hen sich plötzlich in der Rolle derjenigen, die das Überleben in Bunker­Architekturen zu garantieren hatten. So wurde 1961 ein National Fallout Shelter Survey herausgegeben,29 und eine Armee von soge­ nannten „atomic surveyors“ – viele davon Architek­ turstudenten – untersuchte den kompletten Be­ stand der amerikanischen Architektur auf ihre Schutzraumtauglichkeit, 30 um bei entsprechender Eignung auch die berühmten Atomschutzbunker­ Zeichen an die Hauswände anzubringen. Zu Recht fasst Tom Vanderbilt zusammen: „Architects were suddenly on the frontlines of defense. In the Cold War, all architecture was military architecture.“31 Elektromagnetischer Experimentraum Wahrscheinlich hat der deutsche Radiotheoretiker Wolfgang Hagen recht, und es ist keine Übertrei­ bung zu sagen, dass das elektromagnetische Wis­ sen, welches unter anderem dazu führte, strahlende Antennen und Strahlenschutzbunker errichten zu können, am 4. Oktober 1886 durch zwei kleine Fun­ ken ausgelöst wurde die Heinrich Hertz auf eine mehrjährige Experimentierreise schicken sollten.32 Hertz wird am Ende nichts anderes tun, als eine Geometrie des Raums zu eröffnen, „in dem Funken und nichts als Funken ihre Spur hinterlassen“.33 Auf diese Weise ist die Vorstellung eines pervasiven Raumes entstanden, in dem die Unterscheidung von innen und außen nicht mehr greift. Zwischen 1886 und 1888 bewies Hertz mithilfe einer Reihe von Experimenten, dass sich elektroma­ gnetische Wellen im Raum mit unendlicher Ge­ schwindigkeit fortpflanzen. Elektromagnetische Schwingungen, so das Resultat der aufwendigen Versuche, besitzen alle typischen Eigenschaften des Lichts (Reflexion, Brechung, Polarisation) – infolge­ dessen breiten sie sich mit Lichtgeschwindigkeit aus.34 Der Ort dieser bahnbrechenden Experimente war der Hertz’sche Vorlesungssaal an der Karlsru­ her Technischen Hochschule. Hertz hatte großes Glück mit den baulichen Umständen dieses Rau­ mes, der überwiegend aus Holz gebaut war und le­ diglich sechs Eisenträger sowie einen Ofen aufwies: „Eisen oder Eisenträger lenken die elektromagneti­ schen Wellen ab, streuen und reflektieren sie so stark, dass Hertz seine Empfangsfünkchen womög­ lich niemals hätte sehen können, wäre sein Vorle­ sungssaal nicht überwiegend aus Holz erbaut wor­ den.“35 Fortan wird für alle technischen Medien gel­ ten, was für den Vorlesungsraum, in dem Hertz ex­ perimentiert, bereits gilt – nämlich dass der Träger des Medialen die Realität des Raumes ist: „Hier ist kein Buch, kein Papier, kein belichtetes Glas, kein Zelluloid, sondern Raum, durch nichts anderes auf­ gespannt als durch das Medium selbst. Der Raum zwischen zwei Funken ist das Mediale, das die Ab­ bildung des Funkens auf den Funken trägt.“36N 290 30 | 31 Einführung in den Hertzianismus

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ARCHICAD 17 steckt im detail. Neu: Automatische Verschneidung mehrschichtiger Bauteile, optimierte 3D-Dokumentation, Kopieren von Elementen im Schnitt u. v. m. ARCHICAD gehört in jedes Planungsbüro. Umsteigen ist denkbar einfach! Zu arm, um nachhaltig zu wohnen? Podiumsdiskussion des Ausschusses Nachhaltiges Bauen der bAIK Wann? Montag, 24.6.2013, 19 Uhr Wo? Erste Bank Event Center, Petersplatz 7, 1010 Wien Die Leistbarkeit des Wohnens gerät zunehmend unter Druck. Günstige Mietwohnungen sind bereits Mangelware. Leistbarkeit und Ökologie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dennoch wird es immer schwieriger, im geförderten Wohnbau die steigenden Standards und die Kosten zur Deckung zu erbringen. Unterschiedliche Verbände und Interessengruppen haben diese Entwicklung bereits einer analytischen Studie unterzogen. Dass die Ergebnisse und Handlungsempfehlungen sich unterscheiden, liegt auf der Hand. Der Ausschuss nachhaltiges Bauen stellt unter anderem die Frage, ob ökologisches, sozial verträgliches und dennoch günstiges Wohnen eine überzogene Forderung ist. Am 24. Juni 2013 wird eine ExpertInnenrunde aus mehreren Berufsfeldern die einzelnen Themenfelder beleuchten und diskutieren. Wie ist der Status quo? Welche Visionen und Handlungsanweisungen gibt es, um die Herausforderungen zu meistern? Architektur ohne Grenzen Austria Bauen innerhalb der Entwicklungszusammenarbeit Als junge Organisation in Österreich haben wir bereits im ersten Vereinsjahr drei Projekte starten können, die geografisch quer über den Globus angesiedelt sind: in Alaska, Bhutan und Südsudan. Wofür wir stehen Architektur ohne Grenzen Austria steht für Bauen mit humanitärer Verantwortung. Unsere Projekte sind hauptsächlich in den sogenannten Entwicklungsländern angesiedelt, wir verschließen uns allerdings nicht gegen Aufgaben in Europa und dem Inland. Wofür wir Ihre Unterstützung brauchen Als interdisziplinäres Netzwerk bringen wir in unserer Projektarbeit Experten und Engagierte aller baurelevanten Branchen an einen Tisch, um möglichst fundierte, zeitgerechte und innovative Ergebnisse zu erzielen. Expertise in vielen Branchen helfen uns: Geologie, Wasserwirtschaft, Raum- und Landschaftsplanung, Sanitär- und Haustechnik, natürliche Ressourcen, Solartechnik und erneuerbare Energien, Statik. Mitglied werden! Vollmitgliedschaft Euro 75,– ermäßigt Euro 35,– /Kalenderjahr Eine Mitgliedschaft beinhaltet die Möglichkeit, an Projekten mitzuwirken, Newsletter und Einladungen zu Veranstaltungen zu erhalten. Wir freuen uns auf eine fruchtbare Zusammenarbeit! GRAPHISOFT.AT Anmeldung bis 21. 6. 2013: www.arching.at/podiumsdiskussion16 Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, Wien Rosa Frey, T: 01/505 58 07-73 Architektur ohne Grenzen Austria Alliiertenstraße 1/27, 1020 Wien www.arch-og.at info@arch-og.at 290 32 | 33 Anzeigen

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PORT. DeR AUFZUG, DeR KOMMUnIZIeRT. Hinter der PORT-Technologie von Schindler verbirgt sich ein einzigartiges ZweiWege-Kommunikationssystem zwischen einem Haupt-Computer, diversen Gebäudeschnittstellen und den Passagieren. Via Touchscreen nimmt PORT Befehle entgegen. Das System berücksichtigt dabei Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, sorgt für Energieeffizienz und optimiert den Verkehrsfluss. www.theporttechnology.com STAATSPReIS COnSULTInG 2013 – InGenIeURCOnSULTInG Der Staatspreis wird vom Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend gemeinsam mit der ACA (Austrian Consultants Association), der gemeinsamen Plattform der Bundessektion Ingenieurkonsulenten der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten und des Fachverbandes Ingenieurbüros der Wirtschaftskammer Österreich, in folgenden Kategorien veranstaltet: • Umwelt und Energie • Infrastruktur • Urbane und räumliche Planung • Forschung und neue Technologien • Hervorragende Einzelingenieurleistungen Schindler Aufzüge und Fahrtreppen GmbH Wienerbergstraße 21-25 1100 Wien Telefon: +43 (1) 60188-0 Telefax: +43 (1) 60188-3000 info@schindler.at www.schindler.at einreichung: Bis 23. September 2013, 17:00 Uhr, können Projekte eingereicht werden. Weitere Informationen finden sich unter www.aca.co.at. Die neue Dimension von Licht und Leben. www.baumann-glas.at Foto: Büro für Architektur www.lutter.at ©Roland Krauss ObjektBAU . GlasBAU . WinterGARTEN . LamellenFENSTER . HochwasserSCHUTZ BAUMANN/GLAS/1886 GmbH . PALMHAUS®-Werk . 4342 BAUMGARTENBERG/PERG OÖ . GewerbePark 10 . AUSTRIA . E-MAIL office@baumann-glas.at Anzeigen

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Velo­city 2013 | Wien setzt (sich) aufs Fahrrad eva Tinsobin, Studium der Philosophie und Medientheorie an der Universität Wien. Seit Mai 2009 Redakteurin für derStandard.at. Das Fahrrad ist in zahlreichen Metropolen zu einem beliebten Fortbewegungsmittel avanciert. Dieser Trend zum Stadtradeln macht sich auch in der österreichischen Bundeshauptstadt bemerkbar, doch mit einem Radverkehrsanteil von gut 6 Prozent hinkt Wien Städten wie Salzburg mit gut 15 Prozent oder gar Kopenhagen (50 Prozent!) weit hinterher. Das soll sich nun ändern. Wiens Kür zum Austragungsort der weltweit wichtigsten Fahrrad-ExpertenTagung „Velo-city“ gab den Anstoß für die Stadtregierung, das Jahr 2013 zum „RadJahr“ auszurufen und sich eine Woche lang gar als „Welthauptstadt des Rades“ zu definieren. Mehr als 160 Veranstaltungen brachten die urbane Bevölkerung auf vielfältige Art und Weise mit dem Fahrrad in Kontakt. Intellektueller Höhepunkt war die „Velo-city“Konferenz von 11. bis 14. Juni im Wiener Rathaus. Internationale Experten referierten und diskutierten gemeinsam mit mehr als 1000 Teilnehmern aktuelle Entwicklungen zum urbanen Radfahren. In Plenarsitzungen, Workshops und an runden Tischen wurde nach Möglichkeiten für eine Ausweitung des Radverkehrs gesucht. Von 6,3 Prozent (Ende 2012) auf 8 Prozent will Wiens Verkehrsstadträtin Maria Vassilakou den Radverkehrsanteil bis Ende 2013 steigern, 10 Prozent sollen es bis 2015 sein. Als Maßnahmen sind intensive Werbeund Bewusstseinskampagnen sowie Verbesserungen der Infrastruktur geplant. Konkret sollen Lückenschlüsse realisiert, konfliktträchtige Passagen entschärft und das Radwegnetz noch heuer von 1222 auf 1240 Kilometer erweitert werden. Vier Millionen Euro wurden dafür budgetiert, allerdings kommen die Mittel für nur fünf Kilometer aus dem Zentralbudget. Für die Ausgaben darüber hinaus müssen die einzelnen Bezirke selbst Geld in die Hand nehmen. Ein Umstand, der bei manchen Bezirksvorständen auf dauerhafte Ablehnung stößt. Darüber, wie sich solche Konflikte lösen lassen und Wien (noch) fahrradfreundlicher werden könnte, Herbert Schachenhofer führt bei Snizek+Partner Erhebungen im Radverkehr sowie in der Beurteilung der Radverkehrssituation durch; bis hin zur netzhaften Weiterentwicklung des Radverkehrsangebots. Daniel elias leitet und bearbeitet bei nast consulting nationale und internationale Projekte für Verkehr und Mobilität und führt Verkehrsuntersuchungen sowie -simulationen durch. Markus Schuster widmet sich bei Herry Consult schwerpunktmäßig der Mobilitätsberatung von Betrieben, Bauträgern und Verwaltungen, der Mobilitätsforschung und Mobilitätserhebungen, deren Ergebnisse unter anderem wesentliche Grundlagen für verkehrspolitische Entscheidungen darstellen. Im Consultingbereich leitet Herry Consult seit 2005 österreichweit das vom Lebensministerium initiierte klima:aktivmobil-Beratungsprogramm „Mobilitätsmanagement für Betriebe, Bauträger und Flottenbetreiber“. brachten auf der Velo-city-Konferenz österreichische Ziviltechniker ihr Know-how ein. Andrea Weninger, Michael Szeiler und Felix Beyer repräsentierten das Planungsund Beratungsbüro Rosinak & Partner. Szeiler widmete sich den Auswirkungen fahrradfreundlicher Wohnbauten auf die Mobilität ihrer Bewohner anhand der Vorzeigeprojekte Bike City und Bike&Swim. Weninger analysierte die Rolle des Fahrrades im Film und ihre Veränderung in den letzten hundert Jahren; Beyer präsentierte die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Grüne Welle für Radfahrer auf innerstädtischen Routen in Wien“. Herbert Schachenhofer vom Planungsbüro Snizek+Partner stellte Sinnhaftigkeit und Möglichkeiten zielgruppenspezifischer Förderung des Wiener Radverkehrs durch eigene Strategien und Botschaften in der Öffentlichkeitsarbeit zur Diskussion. Daniel Elias von nast consulting widmete sich dem Wissensaustausch rund um vorausblickende Ansätze zur Errichtung von Radverbindungen in Gemeinden unter bestmöglicher Nutzung der vorhandenen Ressourcen und Förderungsmöglichkeiten. Markus Schuster von Herry Consult präsentierte den Radkalkulator: ein einfach zu handhabendes Onlinetool für Unternehmen und Verwaltungen zur monetären Bewertung der betriebswirtschaftlichen Einsparungen, die durch radelnde und damit gesündere Mitarbeiter zustande kommen. Für KONstruktiv stellten sich die Experten einigen brisanten Fahrradfragen: KOnstruktiv: Weshalb ist der Radverkehrsanteil in Wien im Vergleich zu anderen Städten so niedrig? Schachenhofer: Darüber gibt es viele Diskussionen. Ich denke, Wien ist flächenmäßig deutlich größer und auch hügeliger als zum Beispiel Kopenhagen. Die mit dem Fahrrad zurückzulegenden Wege sind damit länger und physisch aufwendiger, kurze Wege unter drei Kilometern sind – noch – die Ausnahme. Bestimmte Personengruppen sind im Wiener Radverkehr stark unterrepräsentiert, vor allem Kinder, Ältere und Menschen mit Migrationshintergrund. Auch der ansonsten im Radverkehr starke Verkehrszweck „Einkaufen“ kommt in Wien nur wenig vor. Bei der Infrastruktur weisen Kopenhagen oder München ein sehr umfassendes Netz an getrennten Radverkehrsanlagen auf, die die meisten Stadtgebiete direkt mit dem Zentrum verbinden. Aufgrund stadtstruktureller Gegebenheiten lassen sich Radverkehrsanlagen in Wien nicht so einfach verwirklichen. elias: Die nachträgliche Bereitstellung einer entsprechenden Infrastruktur ist gerade in einer historisch gewachsenen Stadt nicht einfach, ohne dass andere Nutzergruppen in ihrem Verhalten eingeschränkt werden. Daher werden leider oftmals die Mindestbreiten bei Radverkehrsanlagen realisiert. Zum Thema Radverkehr wird oft pauschal negative Kritik geübt. Das führt dazu, dass entsprechende Projekte zur Förderung des Radverkehrs gebremst beziehungsweise nicht unterstützt werden. Andrea Weninger, Michael Szeiler und Felix Beyer von Rosinak & Partner sind im Bereich städtische Verkehrsplanung, Verkehrstechnik und Mobilitätsberatung tätig. Sie erstellen verkehrsträgerübergreifende Verkehrs- und Mobilitätskonzepte für Städte, Regionen, Bundesländer, Verkehrsmodelle und Verkehrssimulationen. 290 34 | 35 Velo-city 2013

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KOnstruktiv: Kann Wien zu einer „Fahrradstadt“ wie Kopenhagen werden? Was bräuchte es dafür? Schuster: Mit Kopenhagen wird die „Latte“ natürlich schon hoch gelegt, aber ich bin der Meinung, dass vor allem durch Bewusstseinsförderung in Ergänzung zu infrastrukturellen Maßnahmen und ein gemeinsames Vorgehen aller Verantwortlichen der Radanteil in Wien gesteigert werden kann – das Potenzial ist auf alle Fälle vorhanden. Weninger, Beyer, Szeiler: Wien soll und kann nicht Kopenhagen oder Amsterdam werden: Die Stadt entwickelt ihre eigene Fahrradkultur. Wien ist bereits Fahrradstadt, besonders im innerstädtischen Bereich und nördlich der Donau. Angesichts wachsender Radfahrerzahlen braucht es einen neuen Umgang in der Infrastrukturplanung und ein komfortables Hauptradroutennetz. Damit verbunden ist eine Reduktion der Pkw-Abstellflächen im öffentlichen Raum. In 15 bis 20 Jahren wird trotz steigender Einwohnerzahlen ein deutlicher Stellplatzüberhang vorhanden sein und der Motorisierungsgrad wird weiterhin sinken. Ebenso erforderlich sind ein flächendeckend verkehrsberuhigtes Nebenstraßennetz und mehr RadAbstellanlagen, insbesondere für Altbauten und im öffentlichen Raum. Schachenhofer: Wien braucht eine Vertiefung des Kenntnisstandes, damit strategisch und planerisch entsprechend reagiert werden kann. Darüber hinaus brauchen wir einen weiteren Ausbau des Radverkehrsangebots, das sich an den Wünschen und Bedürfnissen der vorhandenen und künftigen Benutzer orientieren muss. Nicht zuletzt bedarf es einer entsprechenden Öffentlichkeitsarbeit. Diese soll den Radverkehr als völlig normale und gleichberechtigte Verkehrsart darstellen, die speziellen Bedürfnisse und Notwendigkeiten von Radfahrern – etwa nach Schutz, Verständnis oder Rücksichtnahme – ins Bewusstsein rücken und an die Vorteile des Radfahrens in der Stadt – kostenlos, flexibel, schnell – erinnern. elias: Neben einem politischen Willen, entsprechender Bewusstseinsbildung und Mediation müssen die Wienerinnen und Wiener selbst entdecken, dass es in manchen Situationen sinnvoller sein kann, auf das Fahrrad umzusteigen. KOnstruktiv: Was kann die Velo-city in Wien bewirken? Schuster: Ich denke, die Velo-city wird der Thematik rund ums Radfahren „frischen (Rücken)Wind“ verleihen und das Thema Radfahren somit stärker in den Köpfen der Verantwortlichen als auch der Wienerinnen und Wiener verankern. Außerdem bietet die Velo-city die einmalige Gelegenheit, von Expertinnen und Experten aus aller Welt Erfahrungen und Anregungen zu sammeln, um diese dann in zukünftigen Radplanungen in Wien mit zu berücksichti- 1 Box – 6 DVDs, Digitally remastereD 12 Folgen à ca. 100 min. »nur wer die Vergangenheit kennt, kann die gegenwart beurteilen.« (Hugo Portisch) Die Neubearbeitung und erstmalige DVD-Veröffentlichung der großen historischen Dokumentationsreihe »Österreich i« will eine neue Generation mit der Geschichte ihres Landes vertraut machen. HuGo PortiScH SEPP riff ÖsterreicH Bestellen Sie die Edition über die Geschichte Österreichs vom 1. Weltkrieg bis 1945 per E-Mail unter office@artphalanx.at oder telefonisch unter +43 1 524 9803-0. Bitte geben sie name, adresse und telefonnummer im Zuge der Bestellung an (betreff: Österreich i). *spezialpreis für »Konstruktiv-abonnentinnen«, zuzügl. eUr 5,- Versandspesen Jetzt h! c rhältli 0* e E 64 a:p media Anzeige

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Im April war im Rahmen der 3. Wiener Radparade die Wiener Ringstraße gänzlich den Fahrradfahrern vorbehalten. gen – und: Wien hat dabei natürlich auch die Möglichkeit, die Radprojekte in Wien einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Schachenhofer: Die Konferenz kann bewirken, dass alle zuständigen Stellen die mögliche Rolle und die Wichtigkeit erkennen, die der Radverkehr im gesamtstädtischen Verkehrssystem hat oder haben sollte. Insbesondere für die Bezirke könnte diese Veranstaltung sehr aufschlussreich sein. elias: Die Velo-city bietet die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch mit anderen Ländern, Städten und Gemeinden. So kann die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Zuständigkeiten verbessert werden. Für die Öffentlichkeit ist es vor allem ein Denkanstoß, dass Radfahren ein wichtiges Thema ist und einen eigenen international angesehenen Kongress hat. Weninger, Beyer, Szeiler: Das Radjahr 2013 mit Fahrradwoche und Velo-city schafft bei der Bevölkerung große Aufmerksamkeit für das Thema Radfahren, die Velo-city darüber hinaus Kooperation und Synergien. In Summe könnten ein Paradigmenwechsel eingeleitet und Differenzen zwischen den Handlungsträgern verringert werden. Dabei handelt es sich aber um einen längeren Prozess, der in Wien nach 2013 nicht abgeschlossen sein kann. Eines steht fest: Immer mehr Menschen steigen in Wien auf das Rad um. Durch den Status als Velo-city-Austragungsort 2013 könnte Wien im besten Fall einen anhaltenden Boom des städtischen Radelns erleben. Ein Blick nach München, der Velo-city-Stadt 2007, zeigt, dass die Konferenz zum Umdenken angeregt hat: Der Radverkehrsanteil stieg von damals rund 6 Prozent auf heute über 17 Prozent. Dass es dafür der entsprechenden Infrastruktur, vor allem aber der Bereitschaft bedarf, städtisches Radfahren zu einem großen, gemeinsamen Thema zu machen, liegt auf der Hand. N Velo-city-Webseite und -Programm: http://Velo-city2013.com Video mit Velo-city-Konferenzdirektor Wolfgang Dvorak: http://www.youtube.com/embed/AfCAUWy7MHI?rel=0 Service- und Informationsveranstaltungen sowie Events im Radjahr 2013: www.fahrradwien.at 290 36 | 37 Velo-city 2013

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Ich habe doch nichts zu verbergen, oder? | Die heikle Beziehung von Sicherheit und Freiheit Mathias Rittgerott Journalist und Diplomgeograf. Er schreibt als freier Autor für den Stern und ist Mitarbeiter der Reportagenagentur Zeitenspiegel. Er lebt in Stuttgart. Auf dem Parkplatz der Shoppingmall von Yorkdale im Norden der kanadischen Stadt Toronto scannt ein Polizist Kennzeichen geparkter Fahrzeuge. Er hat keinen Klemmblock, notiert sich nichts, sondern fährt langsam durch die Reihen. Auf dem Dach seines Polizeiautos wurden zwei Kameras montiert und mit einem Computer auf dem Beifahrersitz verbunden. Der Rechner zeigt an, wann ein Wagen zuletzt gescannt wurde, wie lange er geparkt ist und ob ein Strafzettel fällig ist. Eine harmlose Überwachung von Shoppern? Oder eine überzogene Maßnahme für das Verteilen von Strafzetteln? Der deutsche Grünen-Politiker Malte Spitz hat sich freiwillig durchleuchten lassen. Er hat bei der Telekom die Verbindungsdaten seines Handys über die letzten sechs Monate eingeklagt. Gerade so, als wäre er ein Polizist, der gegen sich ermittelt. Dann hat er die Daten gemeinsam mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ analysiert. Herausgekommen ist ein faszinierendes und zugleich erschreckendes Bild dessen, wie detailliert diese Daten – kombiniert mit Spitz’ Meldungen bei Twitter und auf seinem Blog – den Politiker ausspähen. Wo hielt er sich auf und wie lange? Wann ist er in welchem Café gesessen? Wann ist er vermutlich U-Bahn gefahren, weshalb kein Signal zu empfangen war? Die Vorratsdatenspeicherung würde diese Analyse ermöglichen. (www.zeit.de/datenschutz/malte-spitz-vorratsdaten ) Der Mann hat nichts zu verbergen, wie die meisten Bürger. Doch es ist eine Selbstverständlichkeit, dass man etwas verbergen möchte. Niemand ruft beim Einsteigen in einen Bus: „Ich bin Max Mustermann und fahre nach Yorkdale. Ich interessiere mich für karierte Hemden und bin für jeden Einkaufstipp dankbar.“ Die Beispiele zeigen: Wir hinterlassen Daten, was immer wir tun. Ob wir parken, telefonieren, mailen, surfen, über Plätze laufen, die von öffentlichen und privaten Kameras überwacht werden. Doch wer hat Zugriff auf diese Daten? Legal oder illegal? Um den Bürger zu überwachen, zu schützen oder ihm zu schaden? Die Frage betrifft freilich nicht nur den Einzelnen in immer größerem Maße, sondern auch Firmen und Behörden. Die Nutzung von E-Business, E-Commerce und E-Government nehme stetig zu, das www.erstebank.at www.sparkasse.at „ Ziviltechniker stehen gerne auf sicheren Beinen.“ „ Mit einer Bank, die für die finanzielle Statik sorgt.“ Hinter jedem erfolgreichen Ziviltechniker steht eine starke Bank. Ob private oder berufliche Finanzen – unsere Kundenbetreuer liefern rasch und kompetent maßgeschneiderte Lösungen für Ihre Bedürfnisse. Vereinbaren Sie einen Beratungstermin in Ihrer Filiale oder unter 05 0100 - 50500. EBSP_ImgArch_209x145_abf_Konstruktiv_17062013.indd 1 18.03.13 11:16 Anzeige

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Risikobewusstsein und IT-Kenntnisse hielten mit dem gen, sondern wie staatliche Stellen systematisch das Tempo jedoch nicht mit, stellt die österreichische SicherNetz durchforsten und zu regulieren versuchen. Politiker beispielsweise der Piratenpartei fordern eine strickte heitsstrategie fest. Netzneutralität ohne staatlichen Einfluss. Jede InforDementsprechend schnellen die Zahlen für IT-Krimation müsse von jedem an jeden übermittelt werden minalität laut österreichischer Kriminalstatistik in die können, und zwar „grundsätzlich ohne Ansicht der InHöhe. 2012 wurden insgesamt 10.231 Fälle angezeigt – halte“. Internetbetreiber stellten schlicht das Netz zur ein Plus von 112 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Betrug Verfügung und seien nicht für die Inhalte verantwortlich. im Internet + 149 Prozent, Hackerangriffe + 182 Prozent, Daher wird es als kritisch angesehen, wenn Provider Phishing +112 Prozent. Anfang Mai musste die Bank – ob für Net oder Handy – Verbindungsdaten speichern Austria einen Angriff von Hackern abwehren. Die hatten sollen und der Polizei zur Verfügung stellen sollen, obes auf Kundendaten beim Internetbanking abgesehen. Die Attacke erfolgte offenbar über zwei verdeckte IPwohl sie selbst die Daten nicht benötigen. Die UnternehAdressen in Frankreich und Holland und lief über einen men seien keine „privatwirtschaftlichen ErmittlungsbeServer in Deutschland. hörden“. Die EU-Kommission warnte jüngst, durch CyberkriDoch das greift womöglich zu kurz. Geradezu brutal tritt dieser Konflikt beim Thema Kinderpornografie im minalität könne die Wirtschaft grenzüberschreitend Internet auf. Es herrscht Einigkeit darüber, dass Kinder„große finanzielle Verluste“ erleiden. Besonders verwundpornografie ein Verbrechen ist. Über den Weg, die Verbar seien Energieversorger, Banken, Börsen, Verkehrsunbreitung zu verhindern, wird leidenschaftlich gestritten. ternehmen, Gesundheitswesen, die öffentliche VerwalEine Fraktion will im Netz Filter einrichten, einschlägige tung und selbstredend Internetfirmen. 82 Prozent der Seiten stilllegen und deren Betreiber strafrechtlich Teilnehmer einer Expertenbefragung bemängelten die verfolgen. Eine andere Fraktion hält das für sinnlos und Sicherheitslage. Daher fordert die Kommission von den gefährlich, weil dies ein Schritt zur Überwachung und Mitgliedsstaaten, für ein „Mindestniveau“ zu sorgen Zensur des Netzes sei. und eine Art „Rettungspläne“ für einen groß angelegten Zunehmend Sorgen bereitet Datenschützern Cloud Angriff aus dem Netz auf Infrastruktur zu erarbeiten. Computing, bei dem Daten häufig in fremden Ländern Österreichs Strategie zu Cybersicherheit setzt ausdrückgespeichert werden. Der Nutzer hat somit bei Angelich auf die Mitwirkung von Bundeskriminalamt, Natioboten von Google, Amazon und Facebook keine Kontrolle, nalem Sicherheitsrat und Heeresnachrichtendienst. Auf internationaler Ebene arbeiten Polizeibehörob US-Behörden auf diese Daten zugreifen, bemängelt eine vom Europaparlament in Auftrag gegebene Studie. den zwar zusammen, wobei Internetkriminelle zweifelsDer US Patriot Act und der FISA Amendment Act frei besser aufgestellt sind. Interpol hat in Singapur eine gestatten es Polizei und Geheimdienst, bei Google und spezielle Außenstelle eingerichtet, Europol unterhält ein Facebook gelagerte Daten einzusehen, und zwar ohne Kompetenzzentrum Cybercrime. In Österreich soll das Kenntnis des Betroffenen. Dabei gehen gerade dort „Cybercrime Competence Center C4“ aufgerüstet werden. Statt 15 Beamten sollen dort zukünftig 49 ihren Dienst tun. Nutzer sehr freizügig mit Informationen um. US-Ermittler dürfen jede Kommunikation abhören, wenn sie vermuten, Diese kleinen Zahlen sind freilich nicht der Anlass ein Staatsbürger sei beteiligt. Ihnen ist es sogar erlaubt, dafür, dass viele Internetexperten fürchten, der Staat anonyme Daten zu kombinieren, um Profile zu erstellen. werde das Internet mehr und mehr überwachen. Es geht Datenschützer tadeln, internationale Datenschutzabihnen nicht darum, wie viele Polizisten Kriminelle verfolkommen zeigten erhebliche Lücken. 290 38 | 39 Ich habe doch nichts zu verbergen, oder?

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Den Behörden in die Hände spielen dürfte ein Beschluss der Organisation Icann, die Internetadressen vergibt. Demnach müssen Betreiber einer Seite nicht nur ihre Kontaktdaten angeben, die Provider müssen neuerdings überprüfen, ob die Angaben stimmen. Damit soll das Phishing, also das Ausspähen von Bankdaten über gefälschte Homepages, verhindert werden. Bislang konnten sich beispielsweise Dissidenten in China oder Syrien eine anonyme Webadresse besorgen und so ihre Identität verschleiern. Das wird nun deutlich schwieriger und riskanter. Laut Icann-Beschluss sollen Betreiber zudem Kommunikationsdaten über Monate speichern, was einer Vorratsdatenspeicherung gleichkommt. Manche Aktivisten fordern anders als Icann, die Impressumspflicht für Internetseiten einzuschränken. Von Privatpersonen betriebene Seite, mit denen kein Geld verdient wird, sollen anonym bleiben dürfen. Privatleute können einigen Aufwand treiben, den eigenen Rechner zu schützen, über Virenscanner und Firewall hinaus. So bietet Hushmail anonyme Mailkonten, Enigmail verschlüsselt Mails, Tor verbirgt den Weg durchs Internet und TrueCrypt versteckt Daten auf der Festplatte. Das Problem dabei ist, dass man sich darum kümmern muss. Bezeichnenderweise drücken sich auch Unternehmen davor, allzu viel Zeit, Energie und Geld in Internetsicherheit zu investieren. Die EU-Kommission beklagt eine „mangelnde Awareness“ und möchte beispielsweise mit einem jährlich stattfindenden „Monat der Cybersecurity“ das Bewusstsein schärfen. IT-Ziviltechniker für Informationstechnologie könnten einen Beitrag dazu leisten, die Sicherheit zu verbessern. Sie könnten als eine Art „technischer Notar“ fungieren, der Probleme neutral und verschwiegen behandelt und lediglich zusammengefasste Daten an Behörden weitergibt. Somit sollen personenbezogene Daten und Geschäftsgeheimnisse geschützt werden. Ihre Rolle wird in der Zukunft gewichtiger werden. Der international renommierte Sicherheitsexperte Bruce Schneier ergeht sich derweil in Pessimismus. Menschen legten es mit Google und Facebook geradezu darauf an, ausgespäht zu werden, und ihnen sei nicht bewusst, dass sie im Netz von hundert Firmen verfolgt werden. Er nennt Smartphones „Ortungswanzen“ und sieht sich in einem „Überwachungsstaat“. Einen Ausweg aus dem Dilemma sieht er nicht, weil die Herrscher der Spähwerkzeuge dem Bürger immer einen Schritt voraus seien. Ein Weg, Datenmissbrauch und Durchleuchtung vorzubeugen, wäre freilich, Daten zu vermeiden. Der Grünen-Politiker Spitz sollte nicht mehr mit dem Handy telefonieren und Kunden des Einkaufszentrums im kanadischen Yorkdale sollten nicht mehr falsch parken. N Schützen Sie sich und Ihr Unternehmen vor etwaigen Schadenersatzansprüchen! Aon Holdings Austria GmbH Ihr Partner in Sachen Sicherheit & Versicherungen Ihr Berater: Prok. Peter Artmann I 1110 Wien, Geiselbergstraße 17 I t +43 (0)57800-159 I peter.artmann@aon-austria.at Aon_Anzeige_Konstruktiv.Jänner2013.indd 1 26.02.2013 14:23:45 Anzeige

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Am Königsweg, mal mit, mal ohne Volk Kooperative Verfahren, bei denen sich Planer und Nutzer, Planungsbetroffene, Interessenvertreter und Entscheidungsträger versammeln, um Problemlagen zu sichten und Planungsalternativen zu diskutieren, gelten neuerdings als Königsweg zum Bauwerk. Der Architekturwettbewerb hätte Konkurrenz bekommen, meinen dazu die einen, er hätte nur eine manchmal notwendige Ergänzung erfahren, meinen die anderen. Fest steht: Über Monate tagende Projektparlamente können Probleme erfassen, Erwartungen konkretisieren, Interessen artikulieren, Ziele sortieren und Lösungen empfehlen, aber nicht den erlösenden Realisierungsplan ausarbeiten. Kooperative Verfahren schaffen Grundlagen für Wettbewerbe und andere Bauherrenentscheidungen. Sie können auch keine Bürgerbeteili- gung ersetzen. Auf die Kooperation von Fachleuten mit wenigen Repräsentanten projektspezifischer Interessen abstellende Verfahren, wie sie zuletzt in Wien stattfanden, werden als Ausdruck einer längst fälligen Öffnung der Stadtplanung positiv wahrgenommen. Trotz methodischer Kritik ist die Absicht nachvollziehbar, schwierige Projekte früh auf eine breite fachliche Basis zu stellen. Bei kooperativen Verfahren findet primär eine beschränkte Planerbeteiligung statt, begleitet von einer ausgewählten Schar von Projektakteuren. Das ist keine allgemeine Bürgerbeteiligung. Die Unterscheidung zwischen der Teilhabe von Planern und Bürgern ist essenziell, um auch jene aktuell propagierten Verfahrenszüge zu klassifizieren, die alle in alle Phasen direkt einbinden wollen. Kürzlich wurde in Tirol das Experiment gewagt, eine allgemeine Bürgerbeteiligung in einen geladenen Architekturwettbewerb zu integrieren: Zwar wur- de ein Gewinner erkoren, aber auf der Strecke geblieben ist die Anonymität, das Prinzip des Wettbewerbs − das ist die Konkurrenz der besten Werke, nicht die der besten Gesichter. Der Königsweg der Projektentwicklung sollte dagegen Bürgerbeteiligung und Planerbeteiligung nach Wegabschnitten differenzieren. Das ganze „Volk“ einzubeziehen, eine allgemeine Bürgerbeteiligung, ist bei großen Vorhaben unumgänglich. Wie weit diese auf der Skala der Teilhabe von der Information, über die Anhörung und Beschwichtigung bis zur Partnerschaft im finalen Aushandlungssystem gehen muss, ist von Fall zu Fall abzuwägen. Eine beschränkte Planerbeteiligung kann dann im kooperativen Verfahren die Grundlagen für einen Architekturwettbewerb legen. Dort wird letztlich unter allgemeiner Planerbeteiligung, aber exklusiv auf das Preisgericht beschränkter Bürgerbeteiligung, das realisierbare Projekt gefunden. Walter M. Chramosta N Duftempfehlung Das Unsichtbare ist überall! In unserer Kultur wird das Sichtbare überbewertet. Schließlich kann man kein Sinnesorgan besser betrügen als jenes, das seine Wahrnehmungen für evidente Wahrheiten hält. Der größte Aufwand an medialer Simulation ist ans Auge adressiert. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel indes sprach dem Klang eine besondere Nähe zum Geist zu. Erklingendes ist so unsichtbar wie das Nachtgespenst und durchdringt Wände wie dieses, während Licht an den Festkörpern abprallt. Doch auch ohne Kenntnisse moderner Physik ließ sich am Phänomen des Echos ablesen, dass Schall sich ausbreitet. Ob er damit zu den „res extensa“, den ausgedehnten Dingen gehört, oder dank Unsichtbarkeit zu den „res cogitans“, wurde nie ausdiskutiert, bevor das Thema obsolet wurde: Der Geistbegriff ist gestrichen, die Geisteswissenschaf- ten umbenannt, wer will da bestreiten, dass es mit dem Geist bergab und bergab geht? Immer schon ganz unten angesiedelt, in der Hierarchie der Sinne, im Verdacht der Bodennähe wie auch in der Naturgeschichte der Moral, war der Geruch. Die Geschlechtsorgane sind ja auch irgendwo „unten“, zumindest vom „geistigen“ Haupt her betrachtet. In einer Niedrigkeit, auf deren Höhe sich vor der Entwicklung des aufrechten Gangs auch die Nase befand, wie Sigmund Freud pikant bemerkte. Zudem zählen die Fäkalien zu jenem Teil der menschlichen Natur, den zu bestreiten alle Kultur erfunden ward. Die Utopie geruchsfreier Existenz gehört ganz wesentlich zum Projekt der Moderne. Weil es „schlechten“ Geruch gibt, wurde der Geruchssinn insgesamt den „niederen Sinnen“ zugezählt. Als Sinn ist er einfach zu sinnlich. Damit Natur nicht ruchbar wird, gibt es schon lange das Parfum, neuerdings auch als elektrischen Raumduftspray. In einer naturreligiösen Zeit riecht dieses jedoch zu künstlich. Paradox wird die Erlösung vom Geruch nun von der Natur erhofft. Als „Frischluft“ wird „reine Luft“ im Spray verfügbar. Versetzt mit „Wald“-Aroma riecht sie danach, dass nichts riecht. Wolfgang Pauser N Designempfehlung Fahrradhelme sind beengend, heiß, benötigen viel Platz, wenn sie gerade nicht getragen werden, und machen die Frisur kaputt. Das sind wohl die am häufigsten angeführten Ausflüchte all jener Radfahrer, die nach wie vor keinen Helm tragen, wenn sie sich durch den Stadtverkehr schlängeln oder mit ihrem Renner die Landstraße entlangbrettern. Fast utopisch scheint die Ansage zweier schwedischer Industriedesignerinnen, all diese Probleme mit einem vollkommen neuen Konzept lösen zu können. Hövding, der Fahrradhelm, der eigentlich keiner ist, dafür aber wie ein schwedisches Einrichtungsstück klingt, ist lediglich der Funktion nach ein Helm, denn er/sie/es(?) wird um den Hals getragen und offenbart seinen Nutzen nur, wenn er tatsächlich benötigt wird, bei einem Unfall. Was bei einem flüchtigen Blick als modisches Accessoire fehlinterpretiert werden könnte, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als klug durchdachter, sensorgesteuerter Airbag, der sich im Ernstfall schützend um den Kopf stülpt. Diese brillante Neuinterpretation eines Fahrradhelms stammt von Anna Haupt und Terese Alstin, die in enger Zusammenarbeit mit der Airbag-Produktionsfirma, Alva Sweden nach unzähligen Crashtests und Praxistests Hövding präsentierten. Noch sieht man diese clevere Lösung hierzulande sehr selten, doch das könnte natürlich an ihrem unscheinbaren Design oder am derzeit noch stolzen Preis liegen. www.hovding.com Sebastian Jobst N 290 40 | 41 Empfehlungen

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Ein Verweis auf veraltete ÖNORMEN ist zulässig Der VwGH hat eine Leitentscheidung des VKS Wien aufgehoben, nach der es rechtswidrig ist, wenn Auftraggeber in Ausschreibungsunterlagen auf veraltete ÖNORMEN verweisen. Aus Sicht des VwGH hat der VKS Wien keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, warum die Verweisung auf die veralteten Normen im konkreten Fall geeignet war, ein anderes Ergebnis des Vergabeverfahrens zu bewirken. Zur Vorgeschichte: Eine Auftraggeberin verweist in Ausschreibungsunterlagen auf nicht mehr in Geltung stehende ÖNORMEN. Der VKS Wien erklärt diese Bestimmungen mit der Begründung für nichtig, dass es sich bei ihnen nicht um „geeignete Leitlinien“ im Sinne des BVergG handelt. Nach Ansicht der Auftraggeberin konnte die Bieterin aber die veralteten Normen – ebenso wie Unternehmen aus dem EU-Raum – problemlos auf der Website des Österreichischen Normungsinstituts kostenpflichtig beziehen, weshalb sie in keinem subjektiven Recht verletzt sei. Der VwGH betont, dass „nur Rechtsverstöße, die ein anderes Ergebnis des Vergabeverfahrens bewirken können, eine Nichtigerklärung einer Entscheidung des Auftraggebers rechtfertigen [...]. Es muss zumindest die Möglichkeit bestehen, dass bei rechtskonformer Vorgangsweise des Auftraggebers ein anderes Ergebnis des Vergabeverfahrens möglich ist.“ Der VKS Wien habe den wesentlichen Einfluss des Verwendung nicht mehr in Geltung stehender ÖNORMEN darin erblickt, dass deren Beschaffung wesentlich erschwert sei, weil sie nur beim Österreichischen Normungsinstitut erhältlich seien. Dies treffe jedoch nicht zu, da inländische und ausländische Bieter außer Kraft getretene Normen gleichermaßen beim Normungsinstitut beschaffen müssten. Im konkreten Fall ist der VwGH zum Ergebnis gekommen, dass der Bescheid des VKS Wien keine ausreichenden Feststellungen zur Frage getroffen hat, ob bei rechtskonformer Vorgangsweise des Auftraggebers ein anderes Ergebnis des Vergabeverfahrens möglich gewesen wäre. Offen bleibt, welchen Prüfmaßstab der VwGH an diese Feststellungen legt: Gerade bei der Anfechtung von Ausschreibungsunterlagen wird es für die Vergabekontrollbehörden schwierig sein, zwischen rechtswidrigen Bestimmungen zu unterscheiden, bei denen ein anderes Ergebnis des Vergabeverfahrens möglich erscheint, und Bestimmungen, bei denen dies nicht der Fall ist. (VwGH 6.3.2013, 2010/04/0037 zu VKS Wien 14.01.2010, VKS-8100/09) Johannes Schramm/Gudrun Mittermayr (Schramm Öhler Rechtsanwälte) N Creative engineering, Architecture, and Technology Ralph Hammann DOM publishers 2013 Es soll Architekten geben, die die Gebäudetechnik als bloßen Erfüllungsgehilfen ihres Entwurfes betrachten. In Zeiten nachhaltigen Bauens, wo Energieeffizienz und schonender Umgang mit den natürlichen Ressourcen angesagt sind, ist eine solche Position freilich kaum noch haltbar. Es ist vielmehr so, dass die Technik die Gestaltung mitbedingt. Der Band „Creative Engineering, Architec- ture, and Technology“ von Ralph Josef Frank. Schriften/Writings Hammann (in englischer Sprache) Hg. von Tano Bojankin, zeigt am Beispiel des renommier- Christopher Long, Iris Meder ten deutschen Haustechnikers Metroverlag, Wien 2012 Klaus Daniels, wie erfolgreich die kreative Zusammenarbeit zwischen Architekten und Ingenieuren sein kann. Zahlreiche Bauprojekte aus aller Welt, bei denen Daniels bzw. seine Firma Technik HL beteiligt waren, belegen, dass anspruchsvolle Architektur und Technik auf dem Stand der heutigen Zeit kein Widerspruch sind. Man bedenke nur, welche Funktionen allein die für das äußere Erscheinungsbild entscheidende Gebäudehülle erfüllen muss: Belüftung, Beschattung, Energiegewinnung, Wärmedämmung. Wie reichhaltig die Palette architektonischer Gestaltungsmöglichkeiten trotzdem ist, zeigen die im Buch vorgestellten Bauwerke – vom „Man sagt immer, dass die frühere Wolkenkratzer in Paris bis zum Zeit pathetisch war, die heutige Kunsthaus Graz, vom ESO-Obser- aber sachlich ist. Es hat aber kaum vatorium in der Wüste Chiles bis jemals eine pathetischere Zeit gezur britischen Antarktis-Station. geben als die unsere. Jede Einfachheit, die nicht mehr zu überbieten ist, ist pathetisch.“ Das schrieb der große österreichische Architekt Josef Frank (1885–1967) der Moderne ins Stammbuch. Die 1930 gehaltene Rede „Was ist modern?“ ist in der zweibändigen Ausgabe seiner kürzlich erschienenen gesammelten Schriften nachzulesen, die alle zu Lebzeiten veröffentlichten Texte Franks enthält. Er publizierte viel, im Stil überwiegend polemisch wie Adolf Loos, an dessen Schriften Franks Texte mitunter erinnern. Während Loos sich an Historismus und Jugendstil rieb, prangerte Frank die Fehler der nachfolgenden Ästhetik, des Modernismus, an. Das Gründungsmitglied des Wiener Werkbundes misstraute jenen, die auf jede Frage eine Antwort zu kennen glauben, der Trend zum Einheitsstil galt dem überzeugten Sozialdemokraten als totalitär. Durch all seine Texte zieht sich die Hoffnung, dass Architektur und Design das Leben der Menschen und damit die Gesellschaft verbessern könnten. Er formulierte so manchen Gedanken, der noch heute für die Architektur und darüber hinaus Gültigkeit hat, etwa diesen: „Die Menschen halten viel zu sehr an ihren abstrakten Idealen fest, als dass man sie von den nützlichen Dingen überzeugen könnte.“ Michael Krassnitzer N Jüngste Entscheidung | Krassnitzers Lektüren

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Städte, die wie Efeu wachsen | Magdalena Klemun studierte Elektrotechnik an der Technischen Universität Wien und ist als freie journalistische Mitarbeiterin für „Die Presse“ tätig. Jana Revedin, Architektin und Gründerin der LOCUS Foundation im Porträt Eine Pflanze, die Wurzeln schlägt, wo sie die beste NahLebensgrundlage, die sie in Bildung und Innovation als Entwicklungsmotoren investieren. Als sich verlässliche rung findet – und deren Struktur rasche Reaktion auf öffentliche Beleuchtung als dringendster Wunsch der veränderte Umstände ermöglicht. Kein Zufall, dass Jana Bewohner erwies, griff Revedins Team zu Zabbaleens Revedin den botanischen Begriff der radikanten, besonureigensten Werkzeugen, dem Recycling und der handders anpassungsfähigen Pflanzen als Metapher für ihre Arbeit in der nachhaltigen Stadtentwicklung gewählt hat: werklichen Tradition. So entstanden Straßenlampen Dynamische Verwurzelung macht auch ihren eigenen und Innenbeleuchtungen aus verwertetem Abfallmetall, Werdegang aus. Die 1965 geborene Architektin versteht das Licht dafür liefern Fotovoltaikanlagen. sich als „Nomadin“, die es in ihren Lehr- und WanderjahWer an informelle Siedlungen denkt, dem leuchtet die radikante Stadt schnell ein. Aber wie lässt sich das ren über den Globus zog. Nach dem Architekturstudium Konzept in westlichen Stadträumen nützen, wo Infrain Buenos Aires, Princeton, Mailand und der Habilitation in Venedig führt Revedin seit 1996 ihr Architekturbüro in struktur lange vorhanden und oft wenig flexibel ist? Villach. 2007 initiierte sie den Global Award for SustainFür Revedin bedarf es auch in solch hoch entwickelten able Architecture, der nachhaltige Architektur in Wissen„Biotopen“ einer Art bewusster Verwilderung: „Piratenschaft und Praxis fördert. Der Preis wird jährlich von der grün und besetzter Straßenraum bringen Aufbruch, LOCUS Foundation vergeben, einer von ihr gegründeten Humor und Sinnlichkeit in unsere totgeplanten Städte.“ Stiftung, die unter der Schirmherrschaft der UNESCO Sie sieht den eigentlich „offenen Prozess“ der Architektur steht. Zuletzt waren der portugiesische Architekt José vielfach zum reinen Konsumprodukt verkommen. Paulo dos Santos, der in Malaysien tätige Kevin Low oder Ein Gegenmittel? „Zurück zum nachhaltigen Wachstum“, die ecuadorianische Architektengruppe AL BORDE unter nennt Revedin kreatives Hinterfragen von Status und den Preisträgern. Anfangs als „Rebellen-Pritzker-Preis“ Standards und das Teilen als Gegentrends zu urbaner belächelt, schreibt der Global Award heute die Shortlist Verödung. der namhaften Architekturauszeichnungen, wie der Revedins ursprüngliches Interesse an LebensräuPritzker-Preis an den chinesischen Gestaltungs-Revolumen keimte als Kind, im Garten. „Ich habe Architektur und tionär Wang Shu im letzten Jahr belegt. Städtebau gelernt, weil ich darin, wie mein Vater so schön Abseits von ihrem Engagement für LOCUS führt erkannte, den Menschen im Aufbauen nahe bin.“ Den Menschen „im Aufbauen“ und bei ihrer Entes Revedin regelmäßig nach Norden, als Professorin für Architektur und Gestaltung am Blekinge Institute of wicklung nahe zu sein – diesen Zugang wagt Revedin im Technology im schwedischen Karlskrona. Dort gedeiht Frühjahr 2014 erneut: Gemeinsam mit der UNESCO lädt ihre Forschung, die Entwicklung ganzheitlicher Konzepte die LOCUS Foundation zum Kongress „Redefining Profür die wachsenden oder schrumpfenden Städte eines gress“ nach Paris. von Migration geprägten Zeitalters. Anstatt starrer Zonen, Wie genau sich Revedins Werdegang in Forschung die Nutzungen über Jahre vordefinieren, dient Revedin die und Lehre und ihrer Arbeit für LOCUS weiter verzweigt, Dynamik der radikanten Pflanzen als Modell: Wenn sie wird spannend – schließlich ist sie auch für Überraschundas Konzept von der Botanik in die Stadtplanung übergen abseits der streng geradlinigen Architekturkarriere gut: 2011 veröffentlichte sie ihren ersten Roman „Lysis“, trägt, nimmt Revedin vor allem eines mit – Charakter 2013 folgte „Den Haselweg hinauf“. Von Architektur und und Potenzial vorhandener, lokaler Gegebenheiten. Lebensräumen ausgehend schürft sie jetzt tiefer und Die braucht es in flexiblen Lebensräumen, wenn knappe erforscht Beziehungen und deren Muster. N Ressourcen unterschiedlichsten neuen Bedürfnissen begegnen, noch dazu auf engem Raum. In diesem Spannungsfeld hat für Revedin die gestalterische Mitwirkung der Stadtbewohner besondere Bedeutung: „Ob Mumbais Dharavi Slum oder Rios Favelas, alle Bottom-up-Settlements, die in Selbstbau und -entwicklung von Migrationsgruppen entstanden, entsprechen der gleichen radikanten Bauweise“, so Revedin, „diese Siedlungen sind Katalysatoren von Integration und Innovation, für das Recht auf die Stadt.“ Auch lokales Recycling, das einen Stadtteil unabhängig vom Gesamtsystem macht, nennt sie als Beispiel für radikante Entwicklung. Letztere floriert bereits in der Praxis: Gemeinsam mit ihren Studenten analysierte Revedin 2012 über Monate hinweg die Recycling-Ökonomie und die Lebensbedürfnisse im Kairoer Viertel Zabbaleen, wo koptische Siedler seit Jahrzehnten den Müll der ägyptischen Hauptstadt verarbeiten. Abfalltrennung und industrielle Aufbereitung schufen dieser ärmsten Minderheit eine stabile 290 42 | 43 Porträt Jana Revedin

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Inhalt 3 4 5 6 Editorial, Pendls Standpunkt Puntigams Kolumne, Dusls Schwerpunkt Standpunkte: Rudolf Kolbe, Alfred Brunnsteiner, Christian Aulinger Plus / Minus: Offener Wettbewerb Klaus Duda, Wojciech Czaja 7 Unsichtbare Wirkung 8 – 10 Ich seh’ etwas, das du nicht siehst! | Warum Unsichtbarkeit kein rein optisches Phänomen ist Helmut Leder im Interview mit Sebastian Jobst 11 – 14 Klang als Bau-Material | Der Hör-Raum als Lebensraum in einer zunehmend virtualisierten Umwelt der digitalen Kultur Werner Jauk 15 – 19 Spürbare Wirkung | Zur Notwendigkeit einer veränderten Interaktion von Gebautem und Sozialem Cordelia Polinna 20 – 23 traktat über die vergeudung der wahrheit in der architektur | (fragment) Jan Tabor 24– 26 Der Planungsprozess | Die unsichtbare Steuerungskraft und ihr Wandlungspotenzial der Zukunft Arnold Tautschnig, Anja Hogge 27 – 30 Einführung in den Hertzianismus | Das Zeitalter der Antenne Stephan Trüby 34 – 36 Velo-city 2013 | Wien setzt (sich) aufs Fahrrad Eva Tinsobin 37 – 39 Ich habe doch nichts zu verbergen, oder? | Die heikle Beziehung von Sicherheit und Freiheit Mathias Rittgerott 40 – 41 Empfehlungen, Jüngste Entscheidung, Krassnitzers Lektüren 42 Porträt Jana Revedin Magdalena Klemun 43 Fehlanzeige, Das nächste Heft 44 Von oben Fehlanzeige Die Dominanz der Energiebilanz Der allgemeine Nachhaltigkeitsdiskurs manifest sich im Bauwesen gegenwärtig in einem eingeengten Blick auf die energetische Bilanz eines Gebäudes. Fassaden werden tiefer und teurer und Gebäudekubaturen immer kompakter. Raumhöhen werden allzu oft auf das erlaubte Minimum reduziert, da das Verhältnis Fläche zu Volumen – das A/V Verhältnis – als entscheidender Faktor bei der Ermittlung der Energiekennzahl herangezogen wird. Auch die Verwertungslogik zielt auf die maximale Schaffung von Quadratmetern innerhalb einer gegebenen Bauklasse ab. Die Raumqualität, die in der Relation zwischen Grundriss, Schnitt und Lichtführung entstehen kann, bleibt oft auf der Strecke. Raum sollte aber als Allgemeingut und nicht als Luxus verstanden werden, als ein Mehrwert, der als solcher bewertet und auch gefördert wird. Ein umfassenderes Verständnis von Nachhaltigkeit müsste zur Betrachtung der „Gesamt-Performance“ eines Gebäudes, eines Ensembles führen, in der die dreidimensionale Qualität einen entscheidenden Faktor spielt. Eine flexiblere Handhabung der Bebauungsbestimmungen, etwa durch die Einführung eines Bonussystems, in das der Schnitt und das Volumen als mitbestimmender Faktor aufgenommen werden, wäre im Sinne einer neuen Balance zwischen ökologischem Bewusstsein und architektonischer Qualität längst wünschenswert . André Krammer N Impressum konstruktiv 290 Medieninhaber und Herausgeber Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten (bAIK) 1040 Wien, Karlsgasse 9 T: 01-505 58 07-0, F: 01-505 32 11 www.daskonstruktiv.at Erscheinungsweise Auflage Einzelpreis Abopreis pro Jahr vier Mal jährlich 13.500 Stück 9,00 Euro 24,00 Euro Lektorat Dorrit Korger Grafisches Basiskonzept Gassner Redolfi, Schlins Bohatsch und Partner, Wien Gestaltung vektorama. grafik.design.strategie Wien Druck Ueberreuter Print GmbH, Korneuburg Gedruckt auf SoporSet Premium Abbildungen Seite 3: Roeland Otten // Seite 4: Ingo Pertramer, F. = Fotograf Andrea Maria Dusl // Seite 5: Otto Hainzl, bAIK // A. = Architekt Seite 7: Tomás Saraceno // Seite 8: Helmut Leder // Seite 11: Werner Jauk/Heimo Ranzenbacher // Seite 12–13: raya y punto// Seite 15: Kunstquadrat // Seite 17–18: A. J & L Gibbons/muf architecture| art – F. Sarah Blee // Seite 22: A. Hans Hollein – F. Joe J. Heydecker/ÖNB // Seite 23: A. Heinrich Schmid & Hermann Aichinger – F. ÖNB // Seite 25–26: vektorama.grafik.design.strategie Wien // Seite 30: The US National Archives // Seite 36: Florian Spielauer // Seite 38: ScaarAT // Seite 42: Jana Revedin // Seite 43: Markus Guschelbauer – F. Michael Hassmann // Seite 44: (c) 2010 Microsoft Corporation and its data suppliers Die Redaktion ersucht diejenigen Urheber, Rechtsnachfolger und Werknutzungsberechtigten, die nicht kontaktiert werden konnten, im Falle des fehlenden Einverständnisses zur Vervielfältigung, Veröffentlichung und Verwertung von Werkabbildungen bzw. Fotografien im Rahmen dieser Publikation um Kontaktaufnahme. Das Gestaltungskonzept dieser Zeitschrift ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist unzulässig. Die Texte, Fotos, Plandarstellungen sind urheberrechtlich geschützt. Offenlegung gemäß §25 Mediengesetz ist auf www.daskonstruktiv.at veröffentlicht. 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Redaktion, Anzeigen & Aboverwaltung art:phalanx Kunst- und Kommunikationsbüro Clemens Kopetzky (Geschäftsleitung) Redaktionsteam Susanne Haider, Sebastian Jobst, Heide Linzer 1070 Wien, Neubaugasse 25 /1 /11 T: 01-524 98 03-0, F: 01-524 98 03-4 redaktion@daskonstruktiv.at, anzeigen@ daskonstruktiv.at, abo@daskonstruktiv.at Redaktionsbeirat Walter Chramosta (Architekturpublizist), Gerald Fuxjäger (Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Steiermark und Kärnten), Georg Pendl (Präsident der bAIK), Rudolf Kolbe (Vizepräsident der bAIK und Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Oberösterreich und Salzburg), Sabine Oppolzer (Kulturjournalistin), Wolfgang Pauser (Konsumforscher & Berater), Walter Stelzhammer (Präsident der Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten für Wien, Niederösterreich und Burgenland) Das nächste Heft Die Beherrschung des Wassers ist menschheitsgeschichtlich die Geburtsstunde der Ingenieurskunst. Über Kanäle mussten Siedlungen und Felder damit versorgt werden und Abwässer wiederum aus den ersten Städten abgeleitet werden. Diese Herausforderungen wurden bereits sehr früh durch verhältnismäßig anspruchsvolle technische Lösungen bewältigt, doch auch heute zeigen Hochwasser die Grenzen technischer Beherrschbarkeit auf. Die Ambivalenz dieses Elements im Spannungsfeld zwischen Energiegewinnung, Hochwasserschutz bis hin zu Konflikten um Wasserreserven wird im nächsten Heft behandelt. Markus Guschelbauer, A Piece of Water, Installationsansicht im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung, einer Kooperation der VERBUND-Austrian Hydro Power AG und der Klasse Fotografie an der Universität für angewandte Kunst Wien, Künstlerhaus Wien, 2009. 255 Jausensackerl gefüllt mit je 0,30 Liter Wasser ergeben eine Wasserlandschaft in Form einer minimalistischen Wandinstallation. www.markusguschelbauer.com

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290, Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten Juni 2013, www.daskonstruktiv.at, Euro 9,– | GZ 12Z039152 M | VPA 1070 Wien Von oben betrachtet sieht man da gar nichts. Außer, man ist Spezialist für Luftbildarchäologie. Eine Methode, die wahrlich tief blicken lässt, ins Unterirdische nämlich. Und in die Vergangenheit. Die Kreisgrabenanlage in Steinabrunn ist mehr als 4500 Jahre alt. Lange vor Stonehenge hub man in Niederösterreich an etwa 50 Orten konzentrische Gräben aus und errichtete Palisaden. Deren Sinn und Zweck war lange Zeit ein Rätsel. Zu dessen Lösung die Entdeckung ähnlicher Achsen gegenüber den Himmelsrichtungen einen ersten Hinweis gab. Mehr aber auch nicht, denn die Orientierung der Anlagen ergab keinerlei astronomischen Sinn. Erst die Zusammenarbeit von Archäologen mit Astronomen und Informatikern lüftete das Geheimnis. Galt es doch, die Lage der Sterne in der Steinzeit über Niederösterreich zurückzurechnen und in einem 3D-Modell zu rekonstruieren. In diesem konnte man erneut auf Sinnsuche gehen. Und zeigen, wo die Schattenlinien der Tore am Tag der Sonnenwende verliefen. So wurde klar, welch erstaunliche Kenntnis der Geometrie und Astronomie die Steinzeitmenschen besaßen. Die Kreisgräben waren Uhren und Kalender, bezogen auf Sonnenstände und Sternenhimmel. Und doch hätten für die Kalenderfunktion Pflöcke im Boden gereicht. Der gigantische bauliche Aufwand ist ohne die zusätzliche Annahme soziokultureller Funktionen nicht nachvollziehbar. Welche Götter und Geister auch das Zentrum des Steinzeituniversums bewohnt haben mögen: Sie werden trotz modernster Methoden für immer so unsichtbar bleiben, wie sie es damals schon gewesen sind. Wolfgang Pauser N 290, „Jede Wahrnehmung findet in unserem Kopf statt; Wahrnehmungen bestehen aus einem Zusammenspiel von Erwartungen, von Wissen und von der Fähigkeit, Dinge interpretieren zu können, und sind somit immer eine Konstruktion. Was die neuere Psychologie immer mehr und mehr realisiert, ist, […] dass das oft von Person zu Person schwankt, da es oft mit Erfahrungen und der Vergangenheit, die sich in unser Gehirn eingenistet hat, zu tun hat.“ Unsichtbare Wirkung